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Ralf Bohnsack, Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich (UTB) 2017, 367 S., kt., 24,99 €.

Schmidt, Robert
In: Soziologische Revue, Jg. 41 (2018-07-01), Heft 3, S. 493-497
Online academicJournal

Ralf Bohnsack, Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich (UTB) 2017, 367 S., kt., 24,99 € 

Praxeologie; Dokumentarische Methode; Regelfolgen; Ethnomethodologie

Ralf Bohnsack, Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen/Toronto : Verlag Barbara Budrich (UTB) 2017, 367 S., kt., 24,99 €

Im Zuge ihrer anhaltenden Konjunktur drohen sich praxistheoretische Vokabulare in den Sozial- und Kulturwissenschaften mittlerweile zu einem modischen catch-all term zu entwickeln und ihre Trennschärfe gegenüber konkurrierenden Ansätzen und Paradigmen einzubüßen. Ihr Erfolg scheint ihrer konzeptionellen und methodologischen Weiterentwicklung und Präzisierung geradezu entgegenzustehen. In dieser Situation hat Ralf Bohnsack ein theoretisch ausgearbeitetes Resümee seiner empirischen Forschungspraxis vorgelegt, das Anschluss an die praxistheoretische Diskussion und insbesondere an die hier geführten methodologischen Debatten sucht.

Im Zentrum der Publikation steht eine von der Kultur- und Wissenssoziologie Karl Mannheims ausgehende erkenntnistheoretische Selbstvergewisserung der rekonstruktiven Sozialforschung, der der Autor sich verpflichtet sieht. Mannheim wird dabei als Praxeologe avant la lettre eingeführt. Gestützt v. a. auf dessen vermutlich zwischen 1922 und 1924 verfasste, aber erst in den 1980er Jahren veröffentlichte Schriften ([7] , 1980) wird eine „Metatheorie der Dokumentarischen Methode [...] als Praxeologische Wissenssoziologie“ (62) ausgearbeitet. Bohnsack positioniert seinen Ansatz im umkämpften Terrain der interpretativen und qualitativen Methodologien in kritischer Distanz zum Subjektivismus und epistemischen Individualismus der sozialphänomenologischen Wissenssoziologie (Berger / Luckmann, 1969) und in kritischer Nähe zur Ethnomethodologie.

In dem in zehn Kapitel unterteilten Band werden komplexe begriffliche und terminologische Differenzierungen entfaltet, die in der Auseinandersetzung mit theoretischen Vokabularen und im Rückblick auf frühere Kontroversen und praktische Forschungserfahrungen entwickelt werden. Nach einer knappen Einleitung lotet das 2. Kapitel das Verhältnis zwischen der Wissenssoziologie Mannheims und der Ethnomethodologie aus. Übereinstimmungen erkennt Bohnsack darin, dass beide Zugänge alltägliche methodische Verständigungsprozesse herausstellen, die praktische Klugheit der Teilnehmerinnen betonen und sie nicht gegenüber wissenschaftlichen Rationalitätsstandards abqualifizieren. Darüber hinaus konzeptualisieren beide Ansätze in übereinstimmender Weise die zirkuläre Reflexivität zwischen Äußerung und Kontext, Einzeldokumentation und dokumentiertem Muster. Auf Bohnsacks Kritik an der Ethnomethodologie komme ich in der kritischen Gesamtwürdigung des Bandes am Ende der Besprechung zurück. Im 3. Kapitel wird eine begriffliche Differenzierung vorgenommen, die das gesamte Buch strukturiert: Die primordiale Logik des konjunktiven Erfahrens, praktischen Tuns und Könnens wird von einer (sekundären) Logik des kommunikativen, intentionalistisch geprägten, entwurfsorientierten sozialen Handelns unterschieden. Die Rekonstruktion dieser sekundären Logik kann sich – wie Bohnsack erläutert – an der Intersubjektivitätstheorie von Alfred Schütz orientieren, der auf diese Weise eine nur begrenzte Reichweite attestiert wird.

An die skizzierte Differenzierung schließt das 4. Kapitel an und erläutert die Doppelstruktur des konjunktiven Erfahrungsraumes: Bohnsack zufolge besteht ein Spannungsverhältnis und eine „notorische Diskrepanz“ (109) zwischen dem Konjunktiven und dem Kommunikativen, zwischen performativer Logik und propositionaler Logik, zwischen transsubjektivem, habitualisiertem Erfahrungswissen und intersubjektiven normativen Erwartungen. Diese Spannung werde in der reibungslosen Alltagsbewältigung jedoch entdramatisiert und selbst wieder in eine Praxis überführt. Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraumes wird schließlich auf verschiedene soziale Systeme (Gesellschaft, Organisation, Gruppe, Interaktion, Individuum) projiziert (125ff.). Dies geschieht nicht zuletzt, um darauf hinzuweisen, dass der Begriff nicht an den im Common Sense fest verankerten kulturellen und epistemischen Individualismus gebunden ist, an den sich die individualistischen Soziologien unreflektiert angeglichen haben ([2] , 2012).

Das 5. Kapitel unterscheidet verschiedene (inkorporierte, habitualisierte, imaginative und fiktional-ideologische) Modi impliziten Wissens. Diese Modi werden mit Bezug auf Mead, Heidegger, Goffman, Polanyi und Harry Collins näher charakterisiert und durch Forschungsbeispiele (Gruppendiskussionen und Analysen von Teilnehmerzeichnungen) empirisch plausibilisiert. Das 6. Kapitel liefert dann eine kompakte Darstellung des von Bohnsack entwickelten Verfahrens der dokumentarischen Bild- und Fotoanalyse. Als Referenztheorien werden neben der Ikonologie Panofskys Arbeiten von Imdahl, Boehm, Belting, Barthes und Eco herangezogen, die im Zusammenhang mit dem kulturwissenschaftlichen iconic turn und der Bildsemiotik stehen. Der Leitdifferenz zwischen dem Konjunktiven und dem Kommunikativen, zwischen performativer und proponierender Performanz kommt auch hier eine entscheidende Bedeutung zu, denn sie führt zur Differenzierung zwischen abgebildeten (i.e. ‚bildlich proponierten‘) und abbildenden Bildproduzenten.

Auf die Milieu- und Generationsforschung wird die Mannheimsche Wissenssoziologie im 7. Kapitel bezogen. Bohnsack erläutert den Begriff des Generationszusammenhangs an Beispielen aus seinen empirischen Studien zu Hooligans, Rock-Gruppen in Ostberlin kurz nach der Wende, Armutsmilieus, Unternehmensgründern und Erben in der Schweiz. Von den bisher entwickelten Begrifflichkeiten ausgehend entfaltet das 8. Kapitel dann schließlich ein Konzept der Rahmungsmacht, mit dem die in der Wissenssoziologie bestehende machtanalytische Leerstelle gefüllt werden soll. Bohnsack kommt dazu nochmals auf seine 1983 erschienene Dissertation zurück und verdeutlicht an empirischen Fällen, dass Institutionen der Sozialen Arbeit (Jugend- und Drogenberatung) genauso wie Polizei und Justiz über ein „gesellschaftliches Monopol der Attribuierung von Motiven und darauf aufbauend: der Konstruktion von Identitäten und Biographien“ (244) verfügen.

Im 9. Kapitel werden weitere Anschlüsse zwischen der Praxeologischen Wissenssoziologie und den Entwürfen von Panofsky, Schütz, der frühen Chicago School, Garfinkel, Goffman, Luhmann und Bourdieu hergestellt. Bohnsack weist dabei – nicht immer überzeugend – auf Grenzen der jeweils behandelten Vokabulare hin. So scheint z. B. der Eindruck „objektivistischer Tendenzen“ (299) Bourdieus eher aus einer selektiven Rezeption hervorzugehen. Es ist jedenfalls verwunderlich, dass Bourdieus kritische praxeologische Gegenkonzepte gegen die scholastic fallacies subjektivistischer wie objektivistischer Theorien unerwähnt bleiben. Im Mittelpunkt des 10. Kapitels, das sich mit der Praxisrelevanz der Praxeologischen Wissenssoziologie beschäftigt, steht die Revision des konventionellen und für das deduktiv-nomologische Paradigma grundlegenden Verständnisses einer hierarchischen Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Dies impliziert zum einen, dass die sozialwissenschaftliche Forschung selbst als ein Ensemble von (u. a. theoretischen) Praktiken verstanden werden muss. Und zum anderen folgt daraus, dass systematisch mit der theoretischen und konzeptionellen Klugheit der beforschten Praktikerinnen zu rechnen ist. Gerade die sogenannte angewandte Forschung könne dies vor Augen führen.

Für eine kritische Würdigung des vorgelegten Entwurfs möchte ich zunächst auf die im 2. Kapitel formulierte Kritik an der Ethnomethodologie zurückkommen. Bohnsack kritisiert, ihre theoretische Entschlüsselung der konjunktiven Logik der Praxis sei unzureichend und macht dies u. a. an einem Regelverständnis fest, das er der Ethnomethodologie unterstellt. Sie leite die Handlungspraxis aus normativen Regeln ab, führe zusätzlich aber noch Basisregeln ein, die die Interpretationsverfahren von normativen Regeln anleiten würden und hätte sich damit nicht vollständig von einem „rationalistischen Regelbegriff“ gelöst (vgl. 39ff.). Hier sitzt Bohnsack einem gravierenden Missverständnis auf. Wie u. a. Ann [9] (2009, 2011) deutlich gemacht hat, folgt die Ethnomethodologie in Anlehnung an Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen einem konstitutiven Regelbegriff, der sich vom regulativen und mentalistischen Regelverständnis der normativen Handlungstheorien grundlegend unterscheidet. Entscheidend für die praxeologische und ethnomethodologische Regelkonzeption ist es, Regeln gerade nicht als unabhängig existierende hypothetische Entitäten aufzufassen, die der Praxis als äußere (regulative) Instanzen gegenübertreten. Die Regelmäßigkeit der Praxis leitet sich also gerade nicht aus einem Regelwissen oder aus abstrakten Regelforderungen ab. Sie entsteht im routinierten, gekonnten und methodischen Vollzug von Praktiken, in dem Teilnehmerinnen mitunter rückblickend formulieren, was die Regel ist, der sie gerade folgen oder folgen sollten.

Von diesem praxeologischen Argument ausgehend kann auch die von Bohnsack eingeführte und auf Mannheim zurückgehende Unterscheidung zwischen einer „performativen“ Logik des konjunktiven impliziten Wissens und einer propositionalen theoretischen Logik der explizierten Regeln und des kommunikativen Wissens nicht überzeugen. Denn auch das Explizieren von Regeln sowie das Räsonieren und Theoretisieren über ihre Geltung und Reichweite lassen sich als Ensembles von explizierenden und räsonierenden Praktiken rekonstruieren. Performative und proponierende Logik vollziehen sich also auf ein und derselben flachen Ebene des Praktischen. Bohnsacks Differenzierungen von Ebenen „noch unterhalb“ (25) des Kommunikativen und Konjunktiven folgen zwar Mannheim, der das gelebte Leben als ein ständiges Auf- und Absteigen vom Theoretischen zum Atheoretischen beschrieben hat, sie widersprechen aber der für die Praxistheorie konstitutiven flachen Ontologie ([11] , 2016).

Diese Kritikpunkte weisen schon darauf hin, dass Bohnsack seine Mannheim-Interpretation und -Rekonstruktion nicht immer auf den Stand der gegenwärtigen praxeologischen Debatten bringt. So hätte man sich eine Auseinandersetzung mit den neueren und an qualitativen empirischen Verfahren orientierten praxeologischen Konzeptionen ([3] , 2013; [4] , 2004; [5] et al., 2017; [6] et al., 2017; [8] , 2013; [12] et al., 2016) gewünscht. Darüber hinaus werden auch Materialität und Körperlichkeit der Praktiken nicht methodisch eingeholt. Die erläuterten Verfahren und Forschungsbeispiele bleiben textualistisch und auf den linguistischen Bereich des Sozialen, auf Befragungsverfahren, Gruppendiskussionen und Bildinterpretationen beschränkt. Materialitäten und Körper kommen allenfalls als Trägermedien von Wissensbeständen, symbolischen Konstruktionen und kulturellen Gehalten in den Blick.

Weil der practice turn in Bohnsacks Studie konsequent als empirical turn verstanden wird, leistet das Buch nichtsdestotrotz aber wegweisende Beiträge zu den aktuellen methodologischen Debatten um die empirische Sozialforschung. Bohnsacks Entwurf betont den rekonstruktiven Zug des praxeologischen Zugangs: Er ist nur als methodologische Praxeologisierung möglich und impliziert einen Herstellungsprozess, der sowohl die Objekte als auch den theoretischen Blick konstruiert und strukturiert. Damit werden Empirie und Theorie nicht mehr als voneinander unabhängige Bereiche aufgefasst. Gegenüber dieser reflexiven Anlage der von Ralf Bohnsack entworfenen Praxeologischen Wissenssoziologie erweist sich die konventionelle Methodologie, die gegenwärtig immer noch – bzw. wieder – als die eine und einzige Methodologie der empirischen Sozialforschung propagiert wird, als nicht mehr satisfaktionsfähig.

REFERENCES 1 Berger, P. L.; Luckmann, T. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit; Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1969. 2 Ehrenberg, A. Das Unbehagen in der Gesellschaft; Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2012. 3 Gherardi, S. How to conduct a Practice-based Study: Problems and Methods; Edward Elgar Publishing: Cheltenham, UK, 2013. 4 Hirschauer, S. Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis; Hörning, K.; Reuter, J., Hrsg.; transcript: Bielefeld, 2004; pp 73–91. 5 Hui, A.; Schatzki, T.; Shove, E., Eds. The Nexus of Practices. Connections, Constellations, Practitioners; Routledge: London, New York, 2017. 6 Jonas, M.; Littig, B.; Wroblewski, A., Eds. Methodological Reflections on Practice-Oriented Theories; Cham: Springer International Publishing, 2017. 7 Mannheim, K. Strukturen des Denkens; Suhrkamp: Frankfurt a. M, 1980. 8 Nicolini, D. Practice Theory, Work and Organization: An Introduction; Oxford University Press: Oxford, UK, 2013. 9 Rawls, A. W. An Essay on Two Conceptions of Social Order. Journal of Classical Sociology2009, 9, 500–520. 10 Rawls, A. W. Wittgenstein, Durkheim, Garfinkel and Winch: Constitutive Orders of Sensemaking. Journal for the Theory of Social Behaviour2011, 41, 396–418.http://gateway.webofknowledge.com/gateway/Gateway.cgi?GWVersion=2&SrcApp=PARTNER%5fAPP&SrcAuth=LinksAMR&KeyUT=WOS:000298061300005&DestLinkType=FullRecord&DestApp=ALL%5fWOS&UsrCustomerID=b7bc2757938ac7a7a821505f8243d9f3 11 Schatzki, T. Praxistheorie als flache Ontologie. In Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm; Schäfer, H., Hrsg.; transcript: Bielefeld, 2016; pp 29–44. 12 Spaargaren, G.; Weenink, D.; Lamers, M., Eds. Practice Theory and Research. Exploring the Dynamics of Social Life; Routledge: Abingdon, Oxon, 2016.

By Robert Schmidt

Titel:
Ralf Bohnsack, Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich (UTB) 2017, 367 S., kt., 24,99 €.
Autor/in / Beteiligte Person: Schmidt, Robert
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 41 (2018-07-01), Heft 3, S. 493-497
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2018-0060
Schlagwort:
  • Dokumentarische Methode
  • Ethnomethodologie
  • Praxeologie
  • Regelfolgen
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Professur für Prozessorientierte Soziologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Eichstätt Germany

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