Rainer Josef Barzen, Taqqanot Qehillot Šum. Die Rechtssatzungen der jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter. 2 Tle. Monumenta Germaniae Historica. 2019 Harrassowitz Verlag Wiesbaden, 978-3-447-10076-2,
Mit seiner zweiteiligen Edition der mittelalterlichen Rechtssatzungen („Taqqanot") der jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer erfüllt Rainer Barzen ein lang beklagtes Desiderat der Forschungen zur Geschichte von Aschkenas. Die überarbeitete Trierer Dissertation, die als zweiter Band der MGH-Reihe „Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland" erschienen ist, bietet eine sichere Textgrundlage der rheinischen Satzungen unter Berücksichtigung aller bekannten Handschriften und frühen Drucke. Im Vordergrund steht dabei nicht die Rekonstruktion eines Originaltextes, sondern die Offenlegung der Genese der unterschiedlichen Fassungen der Rechtssatzungen, deren gemeinsame Autorisierung durch die jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer erstmals für 1220 und letztmals für 1381 belegt ist. Seither werden die normativ-verfestigten Satzungen auch über die rheinischen Gemeinden hinaus rezipiert. Die bekannten Textzeugen präsentiert Barzen, zu fünf Textfamilien zusammengefasst, synoptisch und mit deutscher Übersetzung, so dass Aufschlüsse über redaktionelle Entwicklungen und Unterschiede zwischen den Texttraditionen sichtbar werden. Eine zusätzliche Darstellung der entsprechenden Überlieferungen im Fließtext ermöglicht die Konzentration auf einzelne Fassungen der Satzungen. Die Arbeit ersetzt auf diese Weise die ältere Edition von Louis Finkelstein aus dem Jahre 1924, dessen Bemühen sich noch auf die Rekonstruktion vermeintlich originärer Versionen der Rechtssatzungen konzentriert hatte.
Darüber hinaus demonstriert Barzen in der historischen Einordnung der „Taqqanot" und dem umfangreichen Anmerkungsapparat der synoptischen Edition die Relevanz seiner philologischen Einsichten für die historische und religionsgesetzliche Forschung. Auf der Grundlage der textkritischen Untersuchung werden historische Annahmen korrigiert (etwa die Vermutung einer Zusammenkunft von 1196 verworfen), differenziert (etwa Rechtsübernahmen durch die Autorität einzelner Gelehrter in Frankreich, aber im Rahmen gemeindeübergreifender Versammlungen im Rheinland nachgewiesen) und erweitert (etwa die Vorgängigkeit des jüdischen Bündnisses gegenüber den Verbindungen christlicher Stadtgemeinden aufgezeigt). Die historische Forschung gewinnt mit der Edition den Zugang zu Texten, die trotz gelehrter Autorschaft Einblicke in so alltägliche Bereiche wie den Weinhandel, das Gebet oder den Scheidungsvollzug gewähren und deren Überlieferung wichtige Rückschlüsse auf Kommunikationsformen, Migrationen und Rechtsadaptionen zwischen jüdischen Gemeinden in unterschiedlichen Umwelten zulässt. Auffällig ist leider, dass der Verlag nicht für ein gründliches Lektorat (Silbentrennung, Orthografie etc.) Sorge getragen hat. Barzens großes Verdienst ist es, einen zentralen Text der jüdischen Tradition in seiner Bedeutung für den Historiker und in seiner Komplexität für den Judaisten – Resümee und „Ratio editionis" werden ins Englische und Hebräische übersetzt – aufgezeigt und aufbereitet zu haben.
By Susanne Härtel
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