Am 24. Februar 2022 wurde die Welt von Russlands brutalem Einmarsch in der Ukraine erschüttert. Die Angriffe fanden nicht nur im Süden und Osten des Landes statt, sondern die russischen Truppen griffen auch die ukrainische Hauptstadt Kiew an. Angesichts der geografischen Nähe Kiews zu Belarus (ca. 160 km Luftlinie) und der Stationierung russischer Truppen auf belarussischem Gebiet im Vorfeld der Offensive wurde schnell klar, dass es sich bei Belarus in diesem Konflikt nicht nur um einen Zuschauer handelt.
Viele Experten sind sich einig, dass der Krieg gegen die Ukraine (beginnend mit der Annexion der Krim im Jahr 2014) nur ein Teil von Russlands langfristigem außenpolitischen Ansatz der Remilitarisierung, des territorialen Revisionismus und damit der strategischen Konfrontation mit dem Westen ist. Während diese Strategie im Fall der Ukraine mit einer offenen militärischen Aggression verfolgt wird, scheint Russland mit einer eher „verdeckten" Annexion seines westlichen Nachbarn Belarus einen „weicheren" Ansatz zu verfolgen.
Belarus diente jahrelang als Pufferzone zwischen Russland und dem Westen. Das Land, das seit 1994 von Aljaksandre Lukaschenka regiert wird, hat versucht, einen neutralen Status beizubehalten und sah seine Außenbeziehungen hauptsächlich von opportunistischen Motiven bestimmt. Als der Westen nach den belarussischen Wahlen in 2020 jedoch eine weitere Runde harter Sanktionen gegen Minsk verhängte, wandte sich Lukaschenka für finanzielle und politische Unterstützung an Moskau. Die in diesem Zusammenhang zunehmende Abhängigkeit des Landes von Russland ermöglichte es dem Kreml, das Land politisch, wirtschaftlich und – vor allem – militärisch unter seine Kontrolle zu bringen.
Da Belarus ein direkter Nachbar der EU und der NATO ist, stellt die wachsende Macht Russlands in und über Belarus eine wesentliche Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Dementsprechend ist es wichtig, die Dynamik sowohl in Belarus als auch zwischen Minsk und seinem Patronatsstaat Russland zu verstehen – insbesondere ihre verstärkte militärische Zusammenarbeit seit 2020.
Während die außenpolitische Haltung von Belarus in Europa mit Sorge betrachtet wird, ist das Land in Bezug auf seine Beziehungen zu Russland und seine Verwicklung in den Krieg stark polarisiert. Seit den turbulenten Wahlen im August 2020 ist Belarus in der Tat ein gespaltenes Land. Lukaschenka, der mit Massenprotesten und dem Vorwurf der Wahlfälschung konfrontiert war, konnte sich mit einer Mischung aus gewaltsamer Unterdrückung, dem Beistand lokaler Eliten sowie erheblicher Unterstützung durch Moskau als Präsident halten. Der Diktator selbst bedankte sich bei Putin für die wirtschaftliche Unterstützung, die sein Land während der monatelangen Volksaufstände erhielt. Die Oppositionskandidatin Sviatlana Tsikhanouskaya, die nach Ansicht unabhängiger Beobachter die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, wurde ins Exil gezwungen und setzt seitdem ihre Kampagne für ein freies Belarus vom Ausland aus fort. Ende 2021 ergab eine von der Chatham House Belarus Initiative durchgeführte Untersuchung der belarussischen Gesellschaft, dass die Anhängerschaft Lukaschenkas nur noch ein Viertel der Bevölkerung ausmacht.
Der Krieg in der benachbarten Ukraine hat diese Spaltung vergrößert. So unterstützte der belarussische Machthaber den Kreml logistisch wie politisch und ließ zu, dass sich im Winter 2021 – unter dem Deckmantel gemeinsamer Übungen – mehr als 30.000 russische Soldaten an der belarussischen Grenze zur Ukraine versammelten. Zudem machte Lukaschenka sich und sein Regime zu Komplizen des russischen Angriffskriegs, indem er gegen eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte, in der die Russische Föderation aufgefordert wurde, ihre Invasion in der Ukraine unverzüglich zu beenden. Ebenso ermöglichte er den Start von Kampfflugzeugen von belarussischen Stützpunkten und erlaubte Putin die Stationierung von atomwaffenfähigen Iskander-M-Raketen in der Region Brest.
Auf der anderen Seite stehen Tsikhanouskaya und ein großer Teil der belarussischen Zivilbevölkerung. So behauptete Tsikhanouskaya, die den Einmarsch aufs Schärfste verurteilt: „Nur 12 Prozent sind der Meinung, dass Belarus seine Soldaten entsenden muss, und nur 13 Prozent unterstützen den russischen Feldzug." In der Tat deuten verschiedene Berichte darauf hin, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung jede Form der Beteiligung an dem Konflikt ablehnt. So ergab eine weitere Chatham House-Umfrage aus März 2022, dass immerhin 67 Prozent der Befragten gegen den Beschuss der Ukraine durch russische Soldaten von belarussischem Territorium sind. Des Weiteren versuchen belarussische Cyberpartisanen, im Netz die Eisenbahninfrastruktur ihres Landes anzugreifen, um dadurch das Vorankommen der russischen Truppen zu behindern. Außerdem haben sich Hunderte von Freiwilligen speziellen Fremdenbataillonen in der Ukraine angeschlossen und damit die Anzahl der Kämpfer, welche sich den russischen Streitkräften widersetzen, verstärkt. Schließlich, gibt es Hinweise, dass sich das Unbehagen über die Rolle von Belarus im Krieg gegen die Ukraine weit über die demokratische Opposition hinaus ausbreitet. So gibt es Berichte über den Rücktritt hochrangiger Beamter aus Protest gegen die Unterstützung der russischen Aggression durch ihr Land.
Damit positioniert sich die belarussische Zivilgesellschaft im Gegensatz zum Lukaschenka-Regime klar gegen den Krieg und den wachsenden russischen Einfluss im eigenen Land. Sie stellt somit einen wichtigen Gegenpol zur aktuellen politischen Linie der Regierung in Minsk dar. Bei der Frage, inwieweit Europa mit Blick auf die aktuelle Lage in Belarus reagieren und welche Maßnahmen dementsprechend ergriffen werden sollten, ist es von entscheidender Bedeutung, auch diese internen Entwicklungen zu berücksichtigen.
Belarus ist für Russland sowohl aus militärischen als auch aus politischen und, in geringerem Maße, aus wirtschaftlichen Gründen von grundlegender Bedeutung. So spielt das Land in der Tat eine wichtige Rolle in der militärischen Strategie Russlands. Der Streit zwischen Litauen und Russland über den Warentransit durch den sogenannten „Suwalki-Korridor" verdeutlicht dies: Belarus ist der kürzeste Weg zu Moskaus Exklave Kaliningrad – und vor allem sein Zugang zur Ostsee.
Ebenso stellt Belarus eine territoriale Pufferzone für Russland dar, es ist die erste Verteidigungslinie gegen die NATO. Nachdem Finnland und Schweden ihre jahrzehntelange Haltung der Neutralität aufgegeben haben und dem Bündnis beitreten werden, ist Belarus nun das einzig freundschaftlich gesonnene Land an Russlands westlichen Landesgrenzen. Die sich vertiefenden Verteidigungsbeziehungen zum Kreml – welche im folgenden Abschnitt dieses Beitrags erörtert werden – sind ein Beweis für den wachsenden geographischen und geopolitischen Wert, den Belarus in Putins Strategie einnimmt. Eine wichtige Rolle stellen für Putin auch die rüstungstechnologischen Kapazitäten von Belarus dar. Hier handelt es sich um militärisch wichtiges Gerät, welches in Russland nicht hergestellt wird. Darunter fallen beispielsweise Sensoren und optoelektronische Ausrüstung, vom Minsker Radtraktorenwerk (Minskiy Zavod Kolesnie Traktor) hergestellte Fahrgestelle, die als Plattformen für Topol-M- und RS-24-Yars-Raketen dienen, sowie Lastwagen und Sattelschlepper des Minsker Automobilwerks (Minski Awtomobilny Sawod), die für mehrere russische Waffensysteme unerlässlich sind, darunter die Iskander-M-Raketen und die S-400-Luftabwehrsysteme.
Auf politischer Ebene hat der Krieg in der Ukraine für Russland die Bedeutung der slawischen Bruderschaft (slavyanskoye bratstvo) deutlich gemacht. Dieses Narrativ, in welchem Moskau die zentrale Rolle in der Einigung und für den Schutz einer gesamtrussischen Zivilisation einnimmt, wird am besten in einem 2021 auf der Kreml-Website veröffentlichten Artikel veranschaulicht, der angeblich von Putin verfasst wurde. Darin behauptet er, dass Russen, Ukrainer und Belarussen alle von einer einzigen, großen Nation – der Kiewer Rus – abstammen und es daher „keinen Unterschied macht, für wen sich die Menschen halten." Das belarussische Regime spielt eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung dieses Mythos. So gab Lukaschenka diese Worte selbst wieder, als er Ende Januar 2022 erklärte, die Ukraine werde „in den Schoß der Slawen" zurückkehren, und als er in einem späteren Interview mit der Associated Press im Mai 2022 Putin als seinen „großen Bruder" bezeichnete.
Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist Belarus ein wichtiger Verbündeter. In der Vergangenheit diente das Land als Transitstrecke für über 20 Prozent der russischen Energieexporte in die EU. Über die Druschba-Pipeline fließt weiterhin Öl von Moskau durch Belarus zu Raffinerien in mittel- und osteuropäischen Ländern, wie der Slowakei und Ungarn. Ende 2021 unterzeichneten Putin und sein belarussischer Amtskollege 28 Programme zur Festigung der Staatenunion. Darunter waren eine Reihe von Fahrplänen, die unter anderem darauf abzielen, die Wirtschaftsgesetze der Länder zusammenzuführen, Steuer- und Zollbestimmungen zu harmonisieren und einen einheitlichen Gasmarkt zu schaffen. Obwohl Minsk in hohem Maße auf russische Unterstützung angewiesen ist, um seine Wirtschaft über Wasser zu halten, ist es Belarus dennoch gelungen, Fähigkeiten in bestimmten strategischen Bereichen wie dem Maschinenbau oder der Informationstechnologie zu entwickeln und zu fördern. Besonders der belarussische Informationstechnologie-Sektor scheint wichtig zu sein, um das russische Technologie-Ökosystem angesichts der westlichen Sanktionen und der Abwanderung von Fachkräften zumindest teilweise funktionsfähig zu halten.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit von Belarus im Jahr 1991 unterhalten Russland und Belarus eine enge militärische Zusammenarbeit. Diese wurde nach dem Amtsantritt von Lukaschenka im Jahr 1994 kontinuierlich ausgebaut. Insgesamt lassen sich die militärischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in multilaterale und bilaterale Kooperationsformate unterteilen.
Die multilateralen Formate sind die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS; im Englischen: Commonwealth of Independent States, CIS) und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS; im Englischen: Collective Security Treaty Organisation, CSTO). In ihnen werden Prinzipien für Gefechtsausbildung und für gemeinsame Übungen festgelegt. Auch ist die Aufstellung gemeinsamer Streitkräfte nach dem Vorbild der russisch-belarussischen OVKS-Streitkräftegruppe für Osteuropa vorgesehen. Aufgrund eines fehlenden gemeinsamen politischen Willens und der interventionistischen Politik Russlands sind die Mitglieder der GUS und der OVKS jedoch meist zögerlich, was den Einsatz von Streitkräften bei tatsächlichen Militäroperationen angeht. Somit müssen die GUS und die OVKS als eher lose militärische Kooperationsplattformen betrachtet werden.
Entsprechend eng sind die bilateralen militärischen Beziehungen zwischen Russland und Belarus. Der politische und rechtliche Rahmen wurde durch den Einigungsvertrag von 1999 gelegt. Auf der Grundlage jahrelanger Verhandlungen zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem damals frisch gewählten belarussischen Präsidenten Lukaschenka wurde 1999 offiziell der Unionsstaat Russland Belarus (kurz: Unionsstaat; im Englischen Union State) gegründet. Ziel war es, die Integration der Wirtschafts- und Verteidigungspolitik der beiden Länder zu vertiefen. Während die meisten wirtschaftlichen und politischen Pläne entweder nie umgesetzt wurden oder scheiterten, war die militärische Dimension im Rahmen des Unionsstaates erfolgreich. Die Integration erfolgte insbesondere in den Bereichen der gemeinsamen Verteidigungspolitik, in der Harmonisierung gemeinsamer militärischer Aktivitäten, in der gemeinsamen Nutzung militärischer Infrastruktur, in der Koordinierung im militärischen Bauwesen, in der Grenzpolitik, sowie in einer Reihe anderer militärpolitischer Angelegenheiten. Darüber hinaus haben Belarus und Russland im Jahr 2001 eine erste gemeinsame Militärdoktrin unter dem Dach des Unionsstaates eingeführt. Während russische Versuche, die Strategie 2018 zu erneuern, scheiterten, da sie nicht mit den damaligen belarussischen Interessen übereinstimmte, wurde im Februar 2022, kurz vor dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, eine neue Militärdoktrin veröffentlicht. Diese Doktrin ist deutlich konfrontativer gegenüber den westlichen Ländern und definiert die NATO als die aktuell bedrohlichste Sicherheitsherausforderung. Dementsprechend haben Russland und Belarus ihre militärische Integration verstärkt. Sie haben (a) einen gemeinsamen Rechtsrahmen eingeführt, der die Schaffung und den Einsatz von Streitkräften ermöglicht, (b) ihre Führungs- und militärischen Ausbildungssysteme vereinheitlicht, und (c) die Integration innerhalb eines Regionalen Truppenverbands (Regional Grouping of Forces) vertieft. Der Verband ist das Resultat eines weiteren bilateralen Militärabkommens zwischen Russland und Belarus aus dem Jahr 1998. In ihm wurde festgelegt, dass die beiden Länder sich verpflichten, im Falle eines Angriffs eine kombinierte Streitkräfteformation in Armeegröße aufzustellen, die sich aus der Gesamtheit der belarussischen Streitkräfte sowie aus verschiedenen russischen Einheiten zusammensetzt. Dieses Szenario wird im Rahmen der regelmäßigen Union Shield-Übungen geprobt. Ein weiteres, bedeutendes bilaterales Militärabkommen zwischen Russland und Belarus ist der Aufbau eines einheitlichen Luftverteidigungssystems (Unified Air Defence System), in dem die Luftverteidigungssysteme der beiden Länder zusammengeführt wurden und seit 2016 als „vollständig integriert" gelten.
Graph: Putin und Lukaschenka – eine eiskalte Männerfreundschaft
Insgesamt spiegelt sich die belarussische Isolation vom Westen, als Konsequenz der schweren westlichen Sanktionen seit 2020, in der zunehmenden militärischen Annäherung an Russland wider. Lukaschenka, als der Opportunist der er ist, war in der Vergangenheit eher zögerlich, wenn es um eine tiefere militärische Verbindung mit Russland ging – aus Angst, die damalige finanzielle und politische Unterstützung des Westens aufs Spiel zu setzen. Doch seine Haltung hat sich geändert. Das Lukaschenka-Regime ist nunmehr politisch wie finanziell in hohem Maße vom Kreml abhängig und Russland konnte seine militärische Präsenz und seinen Einfluss in Belarus erheblich ausbauen.
Dieser Einfluss lässt sich an den folgenden Integrationsschritten ablesen
- In der ersten Hälfte des Jahres 2021 wurde eine weitere gemeinsame belarussisch-russische Militäreinheit auf belarussischem Boden eingerichtet. Hierbei handelt es sich um das gemeinsame Ausbildungs- und Gefechtszentrum für Luftverteidigung und Luftwaffe (Joint Air Defense and Airforce Training and Combat Center) in Grodno. Dieses ist Teil des einheitlichen Luftverteidigungssystems und wurde 2021 in Betrieb genommen. Daneben gibt es zwei gemeinsame Kampfausbildungszentren (Joint Combat Training Centers) auf belarussischem Territorium: (
1 ) die Radarstation Hantsavichy in der Region Brest und (2 ) das 43. Kommunikationszentrum der russischen Marine in der Nähe von Vileyka. Letzteres ist bedeutend für die Koordinierung und Übermittlung von Befehlen an russische Atom-U-Boote weltweit. Obwohl es sich bei allen drei Einrichtungen nicht um offizielle russische Militärstützpunkte handelt, ebnen ihre Instandhaltung und ihr Betrieb den Weg für die dauerhafte Stationierung russischer Truppen in Belarus. - Seit September 2021 patrouillieren russische und belarussische Kampfjets gemeinsam im belarussischen Luftraum. Insbesondere nuklearfähige und strategische Bomber (Tu-160 und Tupoley Tu-22M3) sowie Kampfjets wurden von Russland demonstrativ entlang der polnischen Grenze eingesetzt.
- Belarus und Russland haben die Anzahl gemeinsamer Manöver erhöht, darunter die groß angelegten Übungen Zapad-2021 (September 2021) und Allied Resolve (Februar 2022). Während die Militärübungen offiziell durchgeführt wurden, um eine mögliche NATO-Invasion in Belarus abzuwehren, dienten sie der Vorbereitung für Russlands Einmarsch in die Ukraine. Insbesondere das Allied Resolve -Manöver hat es Russland ermöglicht, das belarussische Territorium und die dortige Infrastruktur als Ausgangspunkt für seine Angriffe in der Region Kiew im Februar 2022 zu nutzen.
- Im Dezember 2021 einigten sich die beiden Länder auf die im vorherigen Abschnitt erwähnte neue gemeinsame Militärdoktrin. Diese wurde im Februar 2022 offiziell ratifiziert.
- Belarus hob im Rahmen einer Verfassungsänderung im Februar 2022 seinen atomwaffenfreien Status und seine offizielle Neutralitätshaltung auf. Demnach ist Belarus kein neutraler „Pufferstaat" mehr zwischen der NATO und Russland und erlaubt erstmals seit 1996 die Stationierung von Atomwaffen auf seinem Territorium.
Es ist offenkundig, dass Belarus von Beginn an von strategischer Bedeutung für Russlands Pläne in der Ukraine war. Die oben erwähnte gemeinsame Übung Allied Resolve von Russland und Belarus ermöglichte es dem Kreml, eine große Anzahl von Truppen und Waffen nach Belarus zu verlegen, unmittelbar bevor die Invasion begann. Obwohl die Übung offiziell nur bis zum 20. Februar 2022 dauerte, wurden die russischen Truppen nicht abgezogen. Russland nutzte die in Belarus stationierten Truppen, um die Ukraine von Norden her anzugreifen und dabei insbesondere die Hauptstadt Kiew ins Visier zu nehmen. Darüber hinaus dienten die belarussischen Flugplätze Baranowitschi und Lida Russland als Startplätze für seine Bomberflugzeuge und ermöglichten den Einsatz eines Frühwarn- und Kontrollflugzeugs, das zur Koordinierung der russischen Luftoperationen in der Ukraine eingesetzt wurde. Des Weiteren wurden zahlreiche russische Raketen- und Artillerieangriffe von belarussischem Territorium aus gestartet. Belarus hat Russland jedoch nicht nur territoriale Vorteile verschafft. Belarussische Streitkräfte haben die russische Armee auch kontinuierlich mit logistischer und medizinischer Versorgung unterstützt. Dennoch ist Lukaschenkas Handlungsspielraum, seine Truppen aktiv in den Krieg einzubringen, begrenzt, da die Anti-Kriegsstimmung in der belarussischen Bevölkerung sehr stark ist und damit eine große Gefahr für seinen Machterhalt darstellt.
Putins Pläne für Belarus betreffen nicht nur die Invasion der Ukraine. Die konsequente Verflechtung von Belarus und Russland – politisch, wirtschaftlich und vor allem militärisch – kann als eine Erweiterung der imperialen Politik des Kremls betrachtet werden. Während alle Augen auf die brutale militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine gerichtet sind, findet gleichzeitig eine stille Invasion und Besetzung von Belarus statt. Durch Lukaschenkas unbeugsamen Willen, seine Kontrolle über das Land aufrecht zu erhalten und seiner damit einhergehenden Hinwendung zum Osten für politische und finanzielle Unterstützung, konnte Russland seinen Einfluss und seine Macht über Belarus stetig erweitern. Die Änderung der belarussischen Verfassung, mit der die Neutralität des Landes aufgehoben wurde, sowie die unbefristete Stationierung russischer Truppen in Belarus schufen letztendlich die Grundlage, um es Moskau zu ermöglichen, seinen imperialen Bestand weiter auszubauen. Russland führt derzeit zwei Kriege mit unterschiedlichen Mitteln: „Während die Ukraine gegenwärtig von Russland militärisch angegriffen wird, wird Belarus ‚sanft' besetzt, ohne dass der Kreml einen einzigen Schuss abfeuern muss."
Die offizielle Hinwendung von Belarus zu Russland und die zunehmende militärische Macht Moskaus in und über Belarus hat Russland nicht nur bei der Durchführung des Angriffskriegs gegen die Ukraine geholfen, sondern auch die Sicherheitslandschaft in und um Europa verändert. Dies führt zu einer zunehmend angespannten Sicherheitslage an der Ostflanke der NATO – umso mehr, weil es das Potenzial birgt russische High-End-Fähigkeiten, einschließlich nuklearfähiger Waffensysteme, näher an die NATO-Grenzen zu bringen. Sollte der anhaltende und bemerkenswerte interne Widerstand der belarussischen Bevölkerung scheitern, könnte Belarus langsam aber sicher zu einer Erweiterung des russischen Territoriums werden. Folglich müssen die NATO und die EU ihre Strategien neu bewerten und an die Bedrohung anpassen, die von diesem direkten Nachbarn ausgeht.
Jahrelang hat der Westen versucht, Belarus mit verschiedenen restriktiven Maßnahmen in die richtige Richtung zu drängen. Wie die jüngsten Entwicklungen allerdings zeigen war die Wirkung dieser Versuche leider begrenzt. Was kann Europa also noch tun?
Zuerst muss Europa – und insbesondere die europäischen NATO-Mitglieder – die Worst-Case-Szenarien in Bezug auf die Verteidigung neu bewerten. Mit der Änderung der belarussischen Militärdoktrin, der verstärkten Integration von Kommandostrukturen und der Stationierung zusätzlicher russischer Truppen im Lande wird die Verteidigung des Suwalki-Korridors immer wichtiger. Man sollte sich nicht länger falschen Illusionen über mögliche russische Absichten oder Fähigkeiten hingeben, wenn es um die Invasion von Nachbarstaaten geht. Da die Exklave Kaliningrad aus Putins Sicht sehr empfindlich ist und die Beziehungen zu Belarus praktisch kolonial sind, könnte die Suwalki-Lücke schnell zu einem neuen Krisenherd werden. Die NATO muss bereit sein, die territoriale Integrität ihrer Mitglieder zu verteidigen, und sie muss konkrete, präventive Maßnahmen ergreifen, um die alliierten Streitkräfte und die Infrastruktur in der Region zu stärken.
Außerdem sollte die EU sicherstellen, dass alle gegen Russland verhängten Sanktionen auch für Belarus gelten. Als faktischer Kriegsbeteiligter muss es die gleichen rechtlichen Konsequenzen tragen, die sich aus seiner Verletzung des Völkerrechts ergeben. Das Europäische Parlament hat bereits in einer Resolution von Mai 2022 die Einführung eines solchen Spiegelungsmechanismus gefordert.
Dies sollte mit intensivem Druck auf westliche Unternehmen einhergehen, damit sich diese vollständig aus dem belarussischen Markt zurückziehen. Globale Unternehmen sind hinsichtlich ihrer Aktivitäten in Russland einer intensiven Prüfung unterzogen worden; dasselbe gilt jedoch nicht mit Blick auf Belarus. Dies bestätigte eine Untersuchung der Yale School of Management, welche eine Liste von Unternehmen anfertigte, die ihre Tätigkeit in Russland (nicht aber in Belarus) einschränkten. Somit unterstützen diese Unternehmen im Großen und Ganzen weiterhin Lukaschenkas Regime und seine Mithilfe an Putins Kriegsanstrengungen.
Die EU sollte auch ihre Unterstützung für die Führerin der demokratischen Bewegung in Belarus, Swiatlana Tsikhanouskaya, verstärken. Länder wie Litauen und Polen haben die Politikerin und ihre Anhänger bereits beträchtlich unterstützt, indem sie vielen Belarussen im Exil Zuflucht gewährten, aber auch offen politische Unterstützung für ihre Bewegung zum Ausdruck brachten. Die Hoffnung auf eine Geberkonferenz im Anschluss an die Schlussfolgerung des Europäischen Rates vom Oktober 2020 hat sich jedoch nicht erfüllt. So knapp die Mittel in der aktuellen Lage auch sein mögen, die Notlage der für Demokratie kämpfenden Belarussen darf bei den geopolitischen Umwälzungen, die wir erleben, nicht auf der Strecke bleiben. Eine verstärkte finanzielle Unterstützung für Tsikhanouskaya, sowie für aktivistische NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen, die in Belarus verbleiben, wird für die Aufrechterhaltung des demokratischen Geistes im Land entscheidend sein.
Schließlich sollte ernsthaft erwogen werden, Belarus vor den Internationalen Gerichtshof zu stellen und zwar sowohl wegen der Repressionen im eigenen Land, als auch wegen seiner Rolle als Beteiligter im Rahmen der Invasion in die Ukraine. Obwohl dies ein weitgehend symbolischer Schritt wäre, würde er Lukaschenkas Platz am Rande der internationalen Gemeinschaft zementieren.
Diese Maßnahmen sollten Lukaschenkas Regime wirtschaftlich schwächen und bestrafen. Sie werden jedoch wahrscheinlich unbeabsichtigte, humanitäre Folgen für größere Teile der Bevölkerung haben. Die EU sollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um derartige Auswirkungen zu vermeiden, und alle Möglichkeiten ausschöpfen, um wirtschaftliches Leid für Unbeteiligte zu mildern. Die jüngsten Entscheidungen über eine Visaerleichterungsregelung, die es normalen belarussischen Bürgern erleichtert, Kurzzeitvisa für die Einreise in die EU zu erhalten, sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Zu lange hat sich Europa gegenüber seinem östlichen Nachbarn in einem reaktiven Modus befunden, war zu vorsichtig und bereit, auf jede Laune von Minsk einzugehen. Das Beschwichtigen von Autokraten führt, wie wir immer wieder gesehen haben, zu Tragödien. In den Worten von Tsikhanouskaya: „Die demokratische Welt muss lernen, Zähne zu zeigen" – auch mit Blick auf Belarus.
By Kira Frankenthal and Arthur de Liedekerke
Reported by Author; Author
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Non-Resident Fellow