Behrendt, Renata; Kreitz, David : Autobiografisches Schreiben in Bildungskontexten. Konzepte und Methoden. Bielefeld : wbv Publikation, 2021 (UTB, Theorie und Praxis in der Schreibwissenschaft, 10). – ISBN 978-3-8252-5545-9. 239 Seiten, € 25,00.
Dieser Sammelband von Behrendt/Kreitz bietet einen vielseitigen Überblick zu den Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens in verschiedenen Bildungsbereichen von der Schule über die Hochschule bis hin zur offenen Weiterbildung. Dabei liefert dieser Band Facetten, die weit über die Optimierung von Schreibprodukten hinausgehen. Die eigene (Sprach-)Biografie wird zum Thema gemacht und statt des Schreibproduktes stehen Reflexion und Entwicklung der schreibenden Individuen im Vordergrund. Der Band selbst entwickelt sich über seine drei großen Teile von eher produkt- zu eher entwicklungsorientiert.
In Teil 1, Schule – Autobiografisches Schreiben mit Lehrenden und Schüler:innen, begegnen den Lesenden, zur Zielgruppe passend, deutlich verschulte und sehr auf die Form bedachte Ideen des autobiografischen Schreibens mit konkreten Aufgaben für die (Schul-)Praxis. Born geht etwa davon aus, dass literarische Werke als Vorlage für und Inspiration zum (auto-)biografischen Schreiben dienen können. Mit Hilfe literarischer Werke – hier anhand des Romans Wie man leben soll von Thomas Glavinic – können die Spielarten anderer Autor:innen und verschiedener literarischer Gattungen erschlossen und in das eigene autobiografische Schreiben integriert werden (
Besonders plastisch kommt das Kapitel von Thüne/Post zu Sprachbiografien daher (77 ff.). Hier wird damit gearbeitet, dass die (Sprach-)Schüler:innen eine Körpersilhouette erhalten. Diese füllen sie zunächst mit ihren Spracherfahrungen malerisch/zeichnerisch/mit einzelnen Worten. Im Anschluss reflektieren die Schüler:innen das, was sie der Silhouettenvorlage hinzugefügt haben, und verfassen dazu einen Text. Thünes/Posts Anleitung regt dazu an, sich künstlerisch der Erkundung der eigenen Sprachbiografie zu nähern. So lässt sich die Methode bequem anpassen an verschiedene Altersgruppen, Bedürfnisse und (künstlerische) Vorlieben. Zweifelsohne sind hier aber die Lesenden gefragt, da sich die Autor:innen bei ihren Ausführungen nur auf diese eine Möglichkeit beschränken. Dies ist charakteristisch für den gesamten Sammelband: Er ist auf das Wesentliche beschränkt, lädt aber zum Weiter- und Mitdenken ein.
In Teil 2, Hochschule – Autobiografisches Schreiben mit Studierenden, steht die Idee der Reflexion im Vordergrund. Dabei geht es primär um die eigene berufliche Weiterentwicklung in der Arbeit mit den zu Unterrichtenden bzw. zu Beratenden. Eine echte Perle in dem Sammelband liefert Bräuer (99 ff.). Bräuer startet seine wissenschaftliche Abhandlung zum Nutzen des Schreibens als Selbsterkenntnis, um andere besser beim Schreiben beraten zu können, mit einem lockeren autobiografischen Einstieg – passend zum Titel des Bandes. Er gewährt den Lesenden einen Einblick in seine eigenen Schreiberfahrungen und in seine Schreib- und Schreibberatungspraxis. Bräuer jongliert mit dem Ich in seinem wissenschaftlichen und zugleich autobiografischen Aufsatz und bietet den Lesenden einen Einblick in sein Arbeitsjournal, den „autoethnografischen Gegenstand", wie er es nennt (
Präzise arbeiten auch Hesse/Kirmse/Seeber die Verwobenheit von Fertigkeiten heraus. Sie betonen die Untrennbarkeit von Lesen und Schreiben und setzen auf verschriftlichte Leseautobiografien (
Nicht minder interessant ist die Reflexion für das Schreiben in juristischen Kontexten, wenn es etwa um die große Verantwortung Schreibender im Zusammenhang mit dem Kindschaftsrecht geht. Hier berührt Mundorf scharfsinnig die Abhängigkeit des Kindeswohls vom Grad der Reflexionsfähigkeit involvierter Berufsgruppen und ihrer Bewusstheit, dass das Schreiben von Berichten ein scharfes Schwert ist und ein lebensveränderndes Potenzial hat (169 ff.). Dieser Beitrag füllt die Lücke, die sich zu Beginn des Bandes vermeintlich auftut: So mutet es anfangs an, als würde der Band frühestens bei der Sekundarstufe I und II ansetzen. Umso erfrischender ist es, dass er doch viel früher ansetzt und Kinder jeden Alters und Familien insgesamt in den Blick nimmt.
In Teil 3, Weiterbildung – Autobiografisches Schreiben in offenen Angeboten, widmet etwa Heimes ihr Kapitel dem therapeutischen Nutzen des autobiografischen Schreibens. Hier wird mit der Wandlungsfähigkeit der Erinnerungen gespielt: Ereignisse im Leben – auch traumatische – können immer wieder neu gedacht und beschrieben werden, sodass sie sich schlussendlich in das eigene Leben integrieren lassen (189–190). Neben der integrativen Wirkung des Geschriebenen ergibt sich durch das Schreiben selbst Distanzierung und Erleichterung. Besonders zu betonen ist hier der Unterschied zum Führen eines Tagebuchs, da das autobiografische Schreiben im therapeutischen Kontext eine Rückschau darstellt (
Auch Röhrs widmet sich der therapeutischen Dimension des autobiografischen Schreibens (217 ff.). Sein Beitrag zum Umgang mit den Kriegserfahrungen und traumatischen Erinnerungen in autobiografischen Erzählungen von Bundeswehrsoldat:innen zeigt auf, wie es möglich sein kann, über das eigentlich Unaussprechliche zu schreiben. Die Trauma-Thematik, die in Teil 3 näher betrachtet wird, nehmen Thüne/Post bereits in Teil 1 in den Blick: Sie zeigen, wie Schüler:innen anhand ihrer ausgefüllten Körpersilhouette und der dazu geschriebenen Texte traumatische Erfahrungen verbalisieren und reflektieren (
Die Autor:innen im Sammelband geben einen bunten Blumenstrauß an Möglichkeiten, autobiografisch im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich und fiktional schreibend tätig zu werden. Das Werk beinhaltet viele Facetten der Bildungsbereiche und auch des therapeutischen und beratenden Bereiches. Ein Fokus liegt sicherlich auf der Deutschlehrer:innen-Ausbildung. Dennoch wird nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass auch andere Bereiche wie der Pflege- und Erziehungsbereich relevante Ergebnisse liefern könnten (
Der Sammelband ist sehr umfassend und deckt durch die Kapitel zu Schule, Hochschule und Weiterbildung einen sehr großen Bevölkerungsteil ab. Lediglich eine (Alters-)Gruppe geht ihm ab: die der (älteren) Menschen, die sich in keinem der strukturierten Bildungs- oder Therapieangebote (mehr) befinden. Dies ist eine Lücke, die es in Folgearbeiten zu schließen gilt. Insgesamt gelingt es durch die vielseitige Zusammenstellung der Beiträge, immer neue und unerwartete Perspektiven für die Lesenden zu schaffen. Der Sammelband macht Lust, die vielen Ideen in die Tat umzusetzen und sogar miteinander zu kombinieren. Auch regt er dazu an, die eigene Autobiografie in den Blick zu nehmen. Die vielen Impulse sind m. E. nicht nur für Multiplikator:innen im Bildungsbereich interessant, sondern auch mit Blick auf die Qualitätssicherung und die Personalentwicklung in Unternehmen. Das autobiografische Schreiben, wie es in diesem Sammelband angeregt wird, bietet eine Möglichkeit, das zu tun, was (nicht nur) im beruflichen Kontext so wichtig ist und wofür oft nur wenig Zeit eingeräumt wird: (Selbst-)Reflexion.
By Anja Döscher
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