Gerd Bolik, NATO-Planungen für die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg, Berlin: Miles 2021, 211 S., EUR 34,80 [ISBN 978‑3‑96776‑021‑7].

Gerd Bolik, NATO-Planungen für die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg, Berlin : Miles 2021, 211 S., EUR 34,80 [ISBN 978‑3‑96776‑021‑7]

Als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch russische Streitkräfte im Jahre 2014 und nach dem Truppenabzug des Westens aus Afghanistan konzentriert sich die NATO wieder auf ihr eigentliches Kerngeschäft, die Landes‑ und Bündnisverteidigung (LV/BV). Spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die Rückbesinnung auf die »alte Bundeswehr« und die Verteidigungsplanungen der NATO bis 1989 wieder angezeigt.

Dennoch führt die Operationsgeschichte des Kalten Krieges bis heute ein Schattendasein. Das ehemalige MGFA begann zwar ab 2010, ein themenspezifisches, internationales Netzwerk mit zahlreichen Schwesterinstituten aufzubauen. Dem zarten Pflänzchen fehlte indes das Licht im Schatten der übermächtigen 100-Jahrfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg. So blieb es bei einigen wenigen soliden, quellengestützten Beiträgen in militärischen Fachzeitschriften oder wissenschaftlichen Sammelbänden. Bis heute fehlt ein Überblicksband, der die »scharfen Einsatzpläne« der NATO im Kalten Krieg erklärt. Diese Lücke will der bundeswehraffine ehemalige Richter Gerd Bolik schließen.

Sein beeindruckendes Werk zeigt, welchen Aufwand das Nordatlantische Bündnis für die Verteidigung Westeuropas in den Jahren 1949 bis 1989 betrieb. Ganz Jurist zeichnet der Autor anhand verfügbarer General Defense Plans der NATO und der einzelnen Bündnisstaaten akribisch und detailliert die bis vor wenigen Jahren noch streng geheimen Operationspläne für die NATO-Kommandobereiche Allied Forces Northern Europe (AFNORTH) und Allied Forces Central Europe (AFCENT) nach. Hilfreich ist die üppige Ausstattung des großformatigen Bandes mit Karten, Skizzen und Übersichten.

Mit klugen Vorbemerkungen leitet Bolik den Leser zuerst durch eine vergangen geglaubte Welt. Begriffe wie Vorwarnzeiten, NATO-Alarmstufen oder Mobilmachung und Aufmarsch, die heute leider wieder aktuell sind, werden hier verständlich erklärt.

Im Hauptteil folgen dann chronologisch gegliedert und mit Quellennachweisen versehen die einzelnen NATO-Kommandobereiche Nord‑ und Mitteleuropa, die Bolik auf die einzelnen Korps und an ausgewählten Beispielen auch auf Divisions‑, ja sogar Brigadeebene herunterbricht. Dadurch gelingt ihm eine sehr dichte Darstellung, die naturgemäß keine Vollständigkeit beanspruchen kann. Am überzeugendsten sind seine Ausführungen zu den Operationsplanungen des I. Deutschen Korps, das im V[erteidigungs]-Fall die norddeutsche Tiefebene verteidigt hätte. Hier ist auch die Quellen‑ und Literaturlage deutlich besser als bei den übrigen Korps. Demnach wäre das grenznahe Schlüsselgelände nordostwärts von Hannover in den 1980er Jahren unbedingt zu halten gewesen, im schlechtesten Falle hätte dieses durch Gegenangriffe wieder genommen werden müssen. Die dafür vorgesehene Korpsreserve, die 3. Panzerdivision, hatte in Friedenszeiten zwei Gegenangriffe sowie einen Auftrag zum Auffangen starker Feindkräfte vorzubereiten und zu üben. Bei Bedarf wäre dem Korps auch noch die 7. Panzerdivision, die als NORTHAG-Reserve eingeplant war, unterstellt worden. Welch hohe Anforderungen dieses Szenario an die damalige Führungskunst der Kommandeure und Befehlshaber stellte, lassen die detaillierten Befehle für den Aufmarsch, die Verzögerung und die Verteidigung, die Bolik auswerten konnte, nur erahnen. Vor allem beim heutigen Stand der Führungskunst, wo es in erster Linie um den Einsatz verstärkter Kampfbataillone geht, fragt sich der Leser, wie lange es dauern wird, das Niveau der Generale Ferdinand von Senger und Etterlin oder Hans-Henning von Sandrart wieder zu erreichen, ganz zu schweigen von der Frage nach den dazu notwendigen voll ausgestatteten und einsatzbereiten Brigaden und Divisionen des deutschen Heeres. Alleine die Truppenstärken in Europa Mitte der 1980er Jahre von insgesamt über 12 Millionen Soldaten, rund 70 000 Kampfpanzern und über 50 000 Artilleriegeschützen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges sind heute kaum mehr vorstellbar.

Insgesamt gewinnt der Leser des angezeigten Bandes einen ausgezeichneten Überblick, in welchen Grenzen und wie genau das Gebiet der Bundesrepublik gegen einen Großangriff des Warschauer Paktes verteidigt werden sollte. So wird nachvollziehbar, wie sich mit dem Streitkräfteaufbau der NATO der Vordere Rand der Verteidigung immer weiter an die innerdeutsche Grenze verschob. Dies lag ganz im Interesse Westdeutschlands, kein Schlachtfeld zu werden. Zudem belegt dieser Band eindrücklich, wie professionell und einsatzbereit die von Vertretern der heutigen Einsatzgeneration oftmals belächelte »alte Bundeswehr« als eine wichtige Säule der Vorne-Verteidigung der NATO war.

Gerd Boliks jahrzehntelange Kärrnerarbeit im häuslichen Arbeitszimmer, in Bibliotheken und Archiven findet mit dem vorgelegten Werk einen beachtenswerten Abschluss. Die wohlwollende Aufmerksamkeit sowohl der militärgeschichtlich Interessierten als auch der mit LV/BV-Fragen beschäftigten Militärs dürfte ihm sicher sein.