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Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer.

Lange, Nico
In: SIRIUS - Zeitschrift fur Strategische Analysen, Jg. 8 (2024-04-01), Heft 1, S. 16-38
Online academicJournal

Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer 

Der Artikel analysiert die Ursachen für den weitgehend erfolgreichen Widerstand der Ukrainer gegen die russische Aggression. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg ist die umfassende Mitwirkung der Bevölkerung am bewaffneten Widerstand gegen die russische Invasion. Wichtig ist auch die Tatsache, dass die Ukraine eine sehr moderne datenbasierte Kampfführung betreibt, bei der Daten aus unterschiedlichen Quellen bezogen und verarbeitet werden, um diese zur Bekämpfung des russischen Militärs einzusetzen. Die ukrainischen Streitkräfte arbeiten zudem oft als dezentralisierte Netzwerke mit viel Führungsverantwortung auf unteren und mittleren Ebenen. Dies hat sich als enormer Vorteil erwiesen. In der Kriegführung hat es sich als sinnvoll herausgestellt, Angriffe auf Logistik, Führungseinrichtungen und Kommunikation des Gegners zu konzentrieren. Eine zentrale Rolle kommt im Ukraine-Krieg Drohnen zu, die massenweise im Einsatz sind. Beachtlich ist auch, dass die Ukrainer große Erfolge mit kleinsten Einheiten im Jagdkampf erzielen konnten. Zudem findet eine Renaissance der Artillerie statt, aber in erweiterter, fortgeschrittener Form. Ein weiterer Baustein des Erfolgs der Ukraine ist die komplexe und redundant strukturierte Logistik vor allem auf Schienen, die stabil auch unter Kriegsbedingungen funktioniert. Die Ukraine hat zudem ein hohes Maß an operativer Sicherheit herstellen können, welches wiederum die Voraussetzung für erfolgreiche Täuschungsoperationen war. Nicht zuletzt bietet die Ukraine ein exzellentes Beispiel dafür, wie man mit den richtigen Methoden und Narrativen den strategischen Informationskrieg gewinnen kann. Der Beitrag gelangt zu dem Schluss, dass die NATO-Militärs sehr viel von der Ukraine lernen können und dass die Erfahrungen des Krieges zur Anpassung ihrer Doktrinen und zu entsprechenden politischen Entscheidungen führen müssen.

The article analyzes the causes of the largely successful resistance of the Ukraine against the Russian aggression. An important reason for the success is the full participation of the population in the armed resistance against the Russian invasion. It is also important to note that Ukraine is engaged in a very modern data-based warfare, in which data are obtained and processed from different sources in order to use them to combat the Russian military in a very effective way. The Ukrainian armed forces also often operate as decentralized networks with a lot of leadership responsibility at lower and middle levels. This has proven to be a huge advantage. It was a very useful decision to focus attacks on the enemy's logistics, command and communications. Drones, which are being used en masse, have played a central role in the Ukraine war. It is also noteworthy that the Ukrainians were able to achieve great success with smallest infantry units (Jagdkampf). In addition, a renaissance of artillery is taking place, but in an expanded, advanced form. Another building block of Ukraine's success is its complex and redundantly structured logistics, especially on rails. They function effectively under war conditions. Ukraine has also been able to establish a high level of operational security, which in turn was a prerequisite for successful deception operations. Last but not least, Ukraine offers an excellent example of how to win the strategic information war with the right methods and narratives. The article concludes that NATO militaries can learn a great deal from Ukraine and that the experience of the war must lead to a major adaptation of doctrines and to a couple of political adjustments.

Keywords: Ukraine; Russland; Militärdoktrin; datenbasierte Kampfführung; Logistik; Drohnen; Infanterie; Artillerie; Russia; military doctrine; data-based warfare; logistics; drones; infantry; artillery

Hinweis Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung eines im Februar 2023 erschienen Arbeitspapiers, welches von dem Thinktank GLOBSEC (Bratislawa) veröffentlicht wurde.

1 Einleitung

Die Selbstverteidigung der Ukraine enthüllt eine unbestreitbare Wahrheit: Die russische Aggression ist besiegbar. Dies ist auf die Beteiligung der gesamten ukrainischen Gesellschaft am Heimatschutz zurückzuführen, aber auch auf die ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten und Führungsqualitäten der Streitkräfte der Ukraine, auf außergewöhnliche Tapferkeit und Kreativität sowie erstaunlichen Pragmatismus und Improvisationsvermögen. Wir alle in den Mitgliedstaaten der NATO, der EU und darüber hinaus können und sollten von der Ukraine für die zukünftigen Bündnis- und Landesverteidigung sowie den Zivilschutz lernen.

Dieser Artikel identifiziert aus der Beobachtung des Kriegsverlaufs und der Verteidigung der Ukrainer einige erste Lektionen für die Streitkräfte in den NATO-Staaten sowie für Politik und Gesellschaft. Er stellt keine umfassende oder abschließende Analyse des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine dar und enthält auch keine Analysen der russischen Fehler und Schwächen. All das wird bereits in anderen lesenswerten Papieren geleistet und ist in vielen weiteren Untersuchungen eingehend analysiert worden.

Vielmehr zieht dieser Artikel Lehren aus der ukrainischen Selbstverteidigung ab Februar 2022 und schlägt mögliche Anwendungen für die Doktrin, die Strukturen und die Ausbildung der Streitkräfte der NATO-Mitgliedstaaten vor. Er gibt auch politische Handlungsempfehlungen, die sich aus den Erfahrungen der Ukraine ableiten. Die Ergebnisse basieren auf Open-Source-Intelligence (OSINT) und einer Reihe von 20 ausführlichen Interviews, die mit kampferfahrenen ukrainischen Kommandeuren und Soldaten geführt wurden. Ihre Identität wird anonym gehalten, da sie weiterhin aktiv in den Streitkräften der Ukraine an der Landesverteidigung teilnehmen. Dieser Bericht enthält keine Angaben zu operativen Informationen oder Informationen, die der Vertraulichkeit oder Geheimhaltung in der Ukraine oder in NATO-Ländern unterliegen.

Die Beobachtung des Kriegsverlauf und die Gespräche mit den ukrainischen Streitkräften zeigten zehn Bereiche auf, in denen die Ukrainer besonders innovativ, kreativ und ungewöhnlich Strategien und Taktiken anwenden, die mindestens in Teilen für uns in der NATO neu sind. Unter anderem durch diese zehn Bereiche gibt uns die Ukraine mögliche Antworten auf die Leitfrage dieses Artikels: Wie kann Russland besiegt werden? Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Die Ukraine bindet bei der totalen Verteidigung die gesamte Gesellschaft ein; (2) der Kampf der Ukraine ist in innovativer Weise datenbasiert; (3) die ukrainischen Streitkräfte arbeiten oft als dezentralisierte Netzwerke mit viel Führungsverantwortung auf unteren und mittleren Ebenen; (4) der konsequente Fokus der Angriffe auf Logistik, Führung- und Kommunikation formt das Kampfgeschehen; (5) Drohnen werden ubiquitär und massenweise für enorm viele Einsatzzwecke eingesetzt; (6) Erfolge werden mit kleinsten Einheiten im Jagdkampf erzielt; (7) wir erleben eine Renaissance der Artillerie, aber in erweiterter, fortgeschrittener Form; (8) komplexe Logistik, vor allem auf Schienen, bildet das stabile Rückgrat der Kriegführung; (9) die Ukraine wahrt ein hohes Maß an operativer Sicherheit, wobei neben strenger Geheimhaltung auch erfolgreiche Täuschung einen entscheidenden Unterschied zu Russland ausmachen; und (10) mit den richtigen Narrativen gewinnt die Ukraine den strategischen Informationskrieg. In jeder dieser zehn Dimensionen geht dieser Artikel zwei einfachen Fragen nach: Was machen die Ukrainerinnen und Ukrainer besonders gut? Was können wir in der NATO, in der EU und darüber hinaus von ihnen lernen?

2 Totale Verteidigung

Tschernihiw, etwa 140 km von Kyjiw und etwa 50 km von der belarussischen Grenze entfernt, März 2022, ein dunkler, kalter, sehr früher Morgen: Plötzlich knallt und zischt es laut in einer Straße in einem Wohnviertel unweit des Stadtzentrums. Sofort sind alle auf den Beinen. Haben die russischen Belagerer wieder mit Artillerie oder den verheerenden Grad-Mehrfachraketenwerfern in die Stadt geschossen? Sind Russen in die Innenstadt eingedrungen? Der russische Einmarsch in die Ukraine war bereits seit dem 24. Februar im Gange. Tschernihiw, direkt an der Grenze zu Belarus mit direkter Straßen- und Eisenbahnverbindung nach Kyjiw, ist eines der ersten Ziele. Doch die Russen können Tschernihiw nicht einnehmen, es toben harte Kämpfe. In der morgendlichen Aufregung um die lauten Geräusche stellt sich dann heraus: Es ist die städtische Müllabfuhr. Auch unter den Bedingungen von Angriff und Belagerung arbeiten die grundlegenden städtischen Dienste stoisch weiter. Der Bürgermeister und der Gouverneur sind an ihren Arbeitsplätzen und melden sich täglich auf Telegram-Kanälen per Video, die Stadtverwaltung ist aktiv, die meisten Menschen sind nach dem Angriff geblieben. Sie sind geschockt und irritiert, sicher auch voller Angst, aber sie sind da. Sie alle sind Teil der totalen Verteidigung.

Der Ausdruck „totale Verteidigung" klingt brutal. Und doch ist er treffend. Denn der russische Überfall auf die Ukraine scheiterte daran bereits innerhalb der ersten entscheidenden 72 Stunden. Die großen ukrainischen Städte direkt an den Grenzen hielten den Angriffen stand. Tschernihiw, Sumy, Charkiw und Mariupol verhinderten den schnellen Vormarsch russischer Kräfte auf Kyjiw, hielten die Attacken auf und ließen sich nicht wie geplant zu logistischen Drehscheiben für den weiteren Vormarsch der Angreifer machen. Die Stadtbevölkerungen schalten vom normalen Leben auf harten Widerstand um.

Dieser Übergang zu einer robusten Kampfmentalität innerhalb weniger Stunden wurde durch zwei Faktoren begünstigt. Zum einen führte die politische Dezentralisierung in der Ukraine seit 2014 zu eigenen Befugnissen und Entscheidungsfreiheiten für Gouverneure und Bürgermeister und förderte die Haltung, die eigene Dinge selbst entscheiden zu können und zu wollen. Zum anderen hatten die ukrainischen Verwaltungen und politisch Verantwortlichen seit den Erfahrungen des Krieges von 2014 und vor allem im Jahr 2021 immer wieder geübt, trainiert und sich Wissen angeeignet, was in einem Kriegsfall zu tun ist.

Der Widerstand der ukrainischen Großstädte und der Stadtbevölkerung illustriert den Kern der totalen Verteidigung: Ein Angreifer hat nicht nur die Streitkräfte des Verteidigers sondern die gesamte Gesellschaft vollständig gegen sich. Dieser Ansatz hat es der Ukraine ermöglicht, sich auf breiter Front als widerstandsfähig zu erweisen und er beinhaltet auch die Fähigkeit der Ukrainer, sich schnell von russischen Angriffen auf kritische Infrastrukturen wie Eisenbahnen, Autobahnen und Energieinfrastruktur zu erholen. Dieser Erfolg wiederum hat es dem Land ermöglicht, seine Zivilbevölkerung kontinuierlich zu versorgen und das Militär substanziell zu unterstützen, sei es durch die Lieferung und Verteilung ausländischer militärischer Ausrüstung und Hilfsgüter oder durch logistische Unterstützung von Kampftruppen.

Mit der russischen Invasion in der Ukraine kam innerhalb der ersten Stunde des Krieges ein neues, in dieser Form beispielloses Element hinzu. Die zivile Bevölkerung wurde zu Millionen zusätzlicher Paare von Augen und Ohren für die Landesverteidigung durch die Armee und Sicherheitskräfte. Noch am 24. Februar richteten die ukrainischen Streitkräfte und der SBU Telegram-Kanäle ein und machten bekannt, wohin Daten und Informationen zu melden sind. Mit überall verfügbaren Mobiltelefonen fotografierten und filmten die Ukrainer Kolonnen, Stellungen, Stützpunkte, Bewegungen, Kennzeichen, Abzeichen von Einheiten, Gesichter von Kommandeuren und Soldaten. Streitkräfte und SBU waren in der Lage, die Daten aufzunehmen, zu verarbeiten und nicht nur für das eigene Lagebild zu nutzen, sondern schnell für die Priorisierung und Bekämpfung von Zielen operativ zu machen. Dazu kam die Auswertung von Sozialen Netzwerken, das Abhören von Mobiltelefonen der Angreifer und das Abgreifen von Daten mit den üblichen Aufklärungsmitteln. Vor allem aber durch die Mitwirkung der ganzen Gesellschaft konnten die ukrainischen Sicherheitskräfte schnell und zuverlässig ein den Angreifern weit überlegenes Lagebild generieren und effektiv auf der Grundlage genauer Informationen Ziele bekämpfen.

Gleichzeit etablierten Politik, Verwaltung und Militär der Ukraine sofort mit Beginn des Krieges vertrauenswürdige Quellen, die ständig in die andere Richtung die gesamte Gesellschaft mit Informationen versorgten. Die konsequente, schnelle und fortwährende Information vor allem in Telegram-Kanälen trug zur kollektiv einheitlichen Wahrnehmung des Lagebildes durch die Zivilbevölkerung und zur Geschlossenheit als Grundlage für totale Verteidigung bei. Verlässliche Informationen werden seitdem selbständig und in Echtzeitgeschwindigkeit multipliziert, weil die gesamte Gesellschaft als Ressource der Multiplikation genutzt werden kann.

Die gesamte Gesellschaft wurde mit Kriegsbeginn auch zur Ressource für die Mobilmachung der ukrainischen Streitkräfte. Die Bilder der langen Schlangen der Ukrainerinnen und Ukrainer vor den Rekrutierungsbüros ab dem 24.2.2022 gingen um die Welt. Schnell meldete sich in hoher Anzahl freiwillig sehr gut ausgebildetes und qualifiziertes Personal zu den Streitkräften: Ärzte, medizinisches Personal, Ingenieure, technische Spezialisten, IT-Fachleute und Mechaniker. Ablauf und Prozess des Umgangs mit den Heerscharen an Freiwilligen waren dabei vor allem in einer Hinsicht bemerkenswert. Die ukrainischen Streitkräfte erfassten schnell und kompatibel in zeitgemäßen IT-Systemen sehr detailliert, wer von den Freiwilligen welche Fähigkeiten aus dem zivilen Leben mitbringt. In extremer Geschwindigkeit wuchs ein verlässlicher Datenbestand auf, der festhält, wer was kann und wo er zu finden ist. Seitdem greifen die ukrainischen Streitkräfte schrittweise auf der Grundlage dieser Informationen auf die personellen Reserven zu und weisen Sie den Qualifikationen entsprechenden Aufgaben zu. Datenerfassung und Datenbestand bilden das Fundament der militärischen Personalreserve.

Die Ausrüstung und Ausbildung der unzähligen Freiwilligen der ersten Tage und Wochen lief zweifellos chaotisch. Doch die Entwicklungen vollzogen sich beeindruckend schnell. Von „es ist eine Katastrophe" und „wir haben nichts" dauerte es nur wenige Monate bis zu „Wir haben Zuviel zu essen, hört auf, es uns zu bringen." Möglich wurde das durch die dezentrale Unterstützung der ukrainischen Truppen durch Netzwerke der Zivilgesellschaft und die jeweilige lokale Bevölkerung an den Orten der Dislozierung. Von täglich im Ort gekochten Rationen bis hin zu Helmen, Schutzwesten, Bekleidung, Drohnen und Fahrzeugen wurde und wird alles aus der Zivilbevölkerung für das Militär gesammelt und geliefert. Natürlich werden damit notgedrungen die Schwächen und Ressourcenknappheit der ukrainischen Streitkräfte ausgeglichen. Gleichzeitig war diese dezentrale Versorgung aber ungleich schneller und effizienter als zentralistische Versuche. Sie schafft zudem unverbrüchliche emotionale Bindungen und Rückhalt und engagiert die Zivilbevölkerung und Gemeinschaften in sinnvollen Tätigkeiten. Die Menschen wollen und können zum Erfolg ihrer Streitkräfte etwas beitragen.

Graph: Ein Wandbild, des britischen Street-Artist Banksy auf einer Wand in Borodyanka, welches den Ukrainern Mut machen soll

Möglich ist das in der Ukraine auch aufgrund der speziellen Geschichte. Horizontale gesellschaftliche Netzwerke entstanden bereits in den Jahren der Orangen Revolution ab 2004 und noch einmal beschleunigt während des Euromaidan ab 2013. Bereits nach der Annektion der Krim und der russischen Intervention im Donbass trugen diese Netzwerke ganz entscheidend zu Wiederaufbau und Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte bei. In der Ukraine gelang es, existierende und robuste Netzwerkstrukturen der Zivilgesellschaft in die Streitkräfte zu übertragen und für die Streitkräfte zu nutzen.

Hinzu kam die mentale Unterstützung für die Gesellschaft aus sich selbst heraus. Das Video des bekannten Künstlers Andriy Khlyvnyuk der Gruppe BoomBox, der sich in den ersten Kriegstagen freiwillig meldete und auf dem Sofienplatz im Kyjiwer Zentrum das ukrainische Volkslied Tscherwona Kalyna sang, verbreitete sich beispielsweise rasend auf den Telegram-Kanälen und ging mittlerweile in unzähligen Versionen in die kollektive Motivation für die Verteidigung ein. Das Gleiche gilt für den düster-grimmigen Elektro-Sound von Dobroho Vechera my s Ukrainy („Guten Abend, wir sind aus der Ukraine") oder die Lieder Bayrakhtar (über die türkische Drohne) und Orka tilo ljashe v grunt, dopomoshe VSU („Die Körper der Orks gehen in den Boden, die Streitkräfte der Ukraine helfen"), die während des Krieges geschrieben, produziert und veröffentlicht wurden. Durch Musik, Kultur und Humor stärkt die ukrainische Gesellschaft ihren Zusammenhalt, tröstet sich in schwierigen Situationen und motiviert sich kämpferisch. Dieser Faktor kann für die Gesamtverteidigung nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Gerade die kulturellen Faktoren und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft bei der Verteidigung durch Ausstattung, Informationen und Datenanalyse führten auch zu dem neuen Phänomen, dass es der Ukraine gelang, über die ukrainische Gesellschaft hinaus eine globale Gemeinschaft der Unterstützung zu formen und als Ressource zu nutzen. Das trägt bis heute zu den ukrainischen Erfolgen bei.

Entstand die totale Verteidigung aber nur notgedrungen, um militärische Schwächen auszugleichen? Können wir diese Beobachtungen aus der Ukraine missachten, weil wir in der NATO militärisch viel stärker sind und uns auch so gegen Russland verteidigen könnten? Diese Betrachtungsweise ist legitim. Und sicher ist richtig, dass die totale Verteidigung der Ukraine auch ein Produkt der historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten der Ukrainer ist. Für uns in der NATO lassen sich aus der Analyse der ukrainischen Erfolge mit totaler Verteidigung dennoch einige wichtige und beachtenswerte Punkte ableiten.

Landesverteidigung gelingt besser, wenn es höhere Anteile der Bevölkerung gibt, die militärische Grundlagenausbildung haben und die geübt in erster Hilfe und medizinischer Überlebenshilfe sind. Was auf den ersten Blick banal klingt, stellt angesichts moderner europäischer und westlicher Gesellschaften eine große Herausforderung dar. Systematische Strategien und Angebote zur Ausbildung – auch in Bezug auf Selbstorganisation und selbstständige Handlungsfähigkeit – sind notwendig, zumal die hohen Erwartungen an den Staat und ein damit verbundener Mangel an Unabhängigkeit in den westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten nachweislich stark gewachsen sind.

Die Überlebensfähigkeit der Menschen ist höher und totale Verteidigung gelingt besser, wenn der Umgang mit Geografie, Karten und Koordinaten von vielen Menschen beherrscht wird und geübt ist, wenn zentrale Begrifflichkeiten bekannt sind und verstanden werden, wenn Grundregeln des Verhaltens bei Angriffen, Suchen von Deckung, und der Fortbewegung in gefährlichen Situationen eingeübt sind. Es ist bereits hilfreich, wenn man bereits überhaupt einmal in seinem Vorleben dazu gezwungen war, sich mental damit zu beschäftigen. Darüber gilt es in NATO-Staaten nachzudenken und Möglichkeiten zu prüfen. Auch vom neuen Mitglied Finnland gibt es innerhalb der NATO in dieser Hinsicht viel zu lernen.

Die Analyse der ukrainischen Verteidigung macht noch einmal völlig klar: Streitkräfte innerhalb der NATO brauchen eine Strategie für die Reserve. Kern dieser Strategie muss eine systematische Erfassung und ein systematisches Mapping der Fähigkeiten von Reservisten aus dem zivilen Leben sein, die für die Verteidigung benötig werden und sinnvoll eingesetzt werden können. Hinzu kommt die Notwendigkeit für regelmäßige Wehrübungen unter realen Bedingungen, möglichst heimatnah und in Zusammenarbeit mit zivilen Verwaltungen.

Die zivilen Verwaltungen selbst müssen regelmäßig Krisen und Verteidigungsszenarien simulieren und unter möglichst realen Bedingungen durchspielen. Wiederkehrende Übungen auf lokaler und regionaler Ebene, an denen zivile Verwaltungen, das Militär und lokale oder regionale Medien beteiligt sind, sind unbedingt erforderlich. Der Aufbau von Gemeinschaften zur Verteidigung der Gesellschaft als Ganzes ist eine Aufgabe für sich, die mit eigenen Positionen in den lokalen und regionalen Verwaltungen geplant werden muss. Spezielles Personal dafür muss identifiziert und geschult werden. Bürgermeister, Gouverneure oder Leiter von Kommunalverwaltungen sowie alle politisch Verantwortliche in Entscheidungspositionen benötigen auch individuell ein spezielles persönliches Training und regelmäßiges Üben für Verteidigungssituationen. Dies sollte zu einer zwingenden Voraussetzung für die Ausübung bestimmter Ämter und Funktionen gemacht werden.

Die Streitkräfte der NATO-Staaten und die Nachrichtendienste sollten mit neuen Ressourcen technologische Strukturen aufbauen, um die von der Zivilgesellschaft bereitgestellten Informationen systematisch zu sammeln, zu integrieren und mit anderen Daten zusammenzuführen. Daten aus der Open-Source-Intelligence-Community müssen in Echtzeit in die Arbeit der Streitkräfte und Geheimdienste einfließen. Leichter Zugang und Anreize für die Zivilgesellschaft sollten geschaffen werden, um mit der Lieferung von Informationen zur Landesverteidigung beizutragen. Mögliche Zielkonflikte dieser Handlungsempfehlungen mit dem Schutz von Daten und dem Persönlichkeitsschutz müssen breit diskutiert und politisch entschieden werden.

3 Datengetriebener Kampf

Brennnesseln schützen sich mit ihrem Brennsaft davor, von großen Tieren gefressen zu werden. Gleichzeitig sind Brennnesseln auch Heilpflanzen. Vielleicht spielten sogar diese beiden Gründe eine Rolle, als es um die Benennung einer Tablet-App ging, die von Freiwilligen der Initiative Armija SOS zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte programmiert wurde. Der Name Kropyva (Brennnesseln) ist Teil einer Tradition, bei der zum Beispiel Artilleriewaffen nach Blumen und Raketensysteme nach Wetterphänomenen benannt werden. Software ist mittlerweile offenbar nach Pflanzen benannt, die wissen, wie sie sich verteidigen können. Unbestritten ist jedenfalls, dass fast alle ukrainischen Soldaten sagen, dass sie ohne das Software-Waffensystem Kropyva kaum noch am Leben wären.

Die App Kropyva, die auf Android-Tablets installiert ist und den ukrainischen Truppen ein aktuelles Lagebild gibt, steht symbolisch für den datengetrieben Kampf in der Ukraine. Ohne aktuelle Daten oder Datenübertragung läuft nichts und nichts passiert, ohne dass die Daten sofort wieder in das System übertragen werden. Die App wurde, wie andere wichtige Software, künstliche neuronale Netze und maschinelle Lernsysteme, die von den Streitkräften der Ukraine verwendet werden, nach Beginn der Invasion in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt, getestet und eingeführt. In kurzen Innovationszyklen entwickeln in die Truppe eingebettete Spezialisten die Apps und KI-Systeme während der laufenden Gefechte ständig weiter, immer orientiert an der Lösung praktischer im Krieg auftauchender Probleme. Künstliche neuronale Netze erkennen Muster in Datenmengen, während das maschinelle Lernen auf der Grundlage des ständig wachsenden Datensatzes immer weiter voranschreitet. Obwohl Systeme wie Kropyva bereits bei ihrer Einführung effektiv waren, entwickeln sie sich ständig weiter, wobei immer wieder neue Funktionen hinzugefügt werden.

Die Daten für die ukrainischen Softwarelösungen kommen aus der militärischen Nachrichtengewinnung und aus den Geheimdiensten, aber auch aus physischen Aufklärungsoperationen, von militärischen und kommerziellen Satellitenbildern, Drohnenflügen, Handyfotos und Handyvideos und open-source intelligence. Die Einbindung aller verfügbaren unterschiedlichen Quellen und die Fusion der Daten verschaffen den ukrainischen Streitkräften einen Vorsprung im Lagebild, verbessern die Entscheidungsgrundlagen für die militärischen Führer und ermöglichen gleichzeitig hohe Mobilität und hohe Präzision. Der ukrainische Kampf, die ukrainische Taktik und Strategie werden von Daten und Datenanalyse angetrieben. Der mögliche Blick auf die Lage in nahezu Echtzeit hat einen höheren Detailgrad, eine höhere Verlässlichkeit und eine viel höhere Geschwindigkeit als jedes klassische militärische Meldewesen.

Ermöglicht wird der datengetriebene Kampf durch eine permanente Konnektivität auf dem Schlachtfeld. Zu diesem Zweck nutzen die ukrainischen Streitkräfte Starlink, eine kommerzielle Satellitenkonstellation mit niedriger Umlaufbahn. Aber auch mobiles Internet wird in Zusammenarbeit mit ukrainischen Betreibern genutzt. Mobile Internetmasten werden sogar auf ukrainischen Vorstößen mitgenommen. Während der Offensivoperation in Richtung Cherson erhielten viele Einwohner im Raum Cherson zu Beginn der Operation plötzlich wieder mobiles Internet, wohl auch, um Informationen über russische Streitkräfte in der Region an die ukrainischen Truppen übermitteln zu können. In jüngster Zeit wurden die ukrainischen Streitkräfte von einer Reihe militärischer SATCOMs versorgt. Diese können als sicherer militärischer Kanal angesehen werden, obwohl sie kein Ersatz für kommerzielle Netzwerke und Bandbreiten sein können, die massiv genutzt werden.

Besonders auffällig ist, dass die Streitkräfte der Ukraine die Open-Source-Dienste systematisch in ihre Datenarbeit einbeziehen. Eine ganze globale Szene arbeitet hier zusammen, um die Ukraine zu unterstützen. Die Streitkräfte der Ukraine und die Nachrichtendienste haben dafür Schnittstellen geschaffen und begegnen den Aktivisten und Aktivistinnen mit Offenheit, Teamgeist und Akzeptanz. Künstliche neuronale Netze zur schnellen Mustererkennung in komplexen Daten und maschinelles Lernen sind zu einem festen und integralen Bestandteil der Kriegsführung geworden. Das gilt für Lageanalyse, Identifizierung von Fahrzeugen, Menschen und Zielen, Priorisierung von Zielen und auch für kreative Methoden der Zielermittlung. Fahrzeugtypen werden automatisch bis in die letzte Differenzierung erkannt und ihr Weg automatisiert weiterverfolgt, sie werden anhand ihres Herstellungswertes oder anderer Kriterien priorisiert, so dass besonders teure oder besonders systemrelevante russische Systeme zuerst als Ziele akquiriert werden können. Immer neue Lösungen für militärische Probleme werden durch das ständige Lernen während des laufenden Krieges möglich. So nutzten die Ukrainer beispielsweise nach der Ausschaltung russischer Munitionsdepots und Eisenbahnbrückenköpfe Satellitenbilder, um Anhand des Vergleichs spezifischer Reifenspuren die Transportwege für Munitionslaster zu ermitteln. Auf diese Weise ermittelte die KI mit der Analyse der Reifenspuren auf Satellitenfotos aus aufeinanderfolgenden Tagen die Koordinaten der neu angelegten Zwischendepots und diese wurden direkt operativ für die Zielerfassung der Artillerie und Raketenartillerie genutzt und erfolgreich bekämpft. Dieses Beispiel zeigt das riesige Potenzial des datengetriebenen Kampfes, das sich mit Blick auf die innovative Arbeit der Ukrainer erahnen lässt. Die Fusion von Daten aus allen verfügbaren Quellen und die KI-unterstützte Auswertung der Daten zur Generation eines output streams für das eigene Lagebild und gleichzeitig eines direkten output streams für die Zielzuweisung der ins System gemeldeten Waffensysteme unterschiedlicher Reichweiten ermöglicht den Ukrainer eine Schnelligkeit und Präzision, die die NATO bisher nicht erreicht hat.

Allerdings entsprechen viele der eingesetzten ukrainischen Systeme nicht den militärischen Standards der operativen Sicherheit. Sie sind abhängig von kommerziellen Konstellationen wie Starlink und kommerziellen Internetplattformen, die anfällig für die gezielte Einspeisung von Falschinformationen sind und oft mit relativ unsicheren, kommerziell erhältlichen Geräten betrieben werden. Vergleichsweise günstige Technologien und einfache Bedienbarkeit sorgen gleichzeitig für eine sehr schnelle Bereitstellung und Nutzung. Aus Sicht der Ukraine sind die Risiken für die operative Sicherheit weniger bedeutend, wenn man sich nur auf den Zugriff auf gerade genug Daten verlässt und diese Daten mithilfe von KI schnell verstehen kann. Das ermöglicht eine deutlich schnellere Geschwindigkeit als der Gegner bei der Erkennung von Situationen und damit eine erhöhte militärischen Wirkung der eingesetzten Waffensysteme.

Obwohl die Grundprinzipien und Potenziale des datengetriebenen Kampfes in den NATO-Staaten schon länger erkannt werden, sollten uns die Innovationen in der Ukraine noch einmal die Augen öffnen und vor allem als Katalysator wirken. Geschwindigkeit macht den Unterschied. Der datengesteuerte Kampf funktioniert besser, wenn er schnell über viele einheitliche, leicht verständliche und einfach zu bedienende Systeme in den Streitkräften eingeführt wird. Die Systeme müssen modular aufgebaut sein und gleichzeitig ein sparsames Frontend haben, das sich auf wenige übersichtliche Funktionen beschränkt.

Die Streitkräfte der NATO sollten daher rasch eine vollständige und kontinuierliche Datenkonnektivität für alle befreundeten Streitkräfte und eine umfassende Sensorik für alle Elemente auf dem Gefechtsfeld einführen. Die vollständige Digitalisierung des Gefechtsfeldes muss jetzt stattfinden, nicht erst in 10–20 Jahren mit dann vermeintlich ausgereiften Systemen. Von nun an sollten die NATO-Streitkräfte immer, ständig und überall Daten über ihre eigenen Übungen und Kampfeinsätze sammeln und auf der Grundlage der Daten immer neue Methoden entwickeln, um diese auszuwerten und zu nutzen.

Ein grundlegender strategischer Wegbereiter für datengesteuerte Kriegsführung sind Satellitenkonstellationen in niedrigen Umlaufbahnen. Die NATO und die EU brauchen dringend ihre eigenen Konstellationen. Angesichts der Verteidigung der Ukraine hätte der Start von Satelliten zu diesem Zweck längst erfolgen müssen. Der Handlungsbedarf ist mehr als dringend.

Es scheint zudem offensichtlich, dass die Schaffung einer „Datentruppe" dringend notwendig wird, die in die NATO-Streitkräfte eingebettet ist. IT-, Daten- und KI-Spezialisten müssen ständig und direkt an Übungen und Kämpfen arbeiten, um Systeme zu verbessern. Datenerfassung und Datenanalyse auf allen Führungsebenen sollten Teil des NATO-Konzepts der Kriegsführung werden. Die Zeiten, in denen Softwarelösungen von theoretischen Anforderungen getrieben in Laboren abseits des realen militärischen Geschehens entwickelt und anschließend erst über viele Jahre hinweg in die Streitkräfte eingeführt wurden, müssen jetzt vorbei sein.

Die Abwägungen zwischen operativer Sicherheit und Nutzbarkeit müssen stärker zugunsten der Geschwindigkeit getroffen werden. Wer den Geschwindigkeitsvorteil hat, kann bei operativer Sicherheit Kompromisse machen. Besonderes Augenmerk sollte in diesem Zusammenhang auf die Art der zeitkritischen Zielerfassung gelegt werden, die sich als entscheidend für den Erfolg einiger Operationen in der sehr dynamischen heutigen Manöverkriegsführung erwiesen hat.

Die Ukraine entwickelte leistungsfähige Systeme für den datengetriebenen Kampf mit KI-Unterstützung innerhalb weniger Wochen und Monate und führte sie direkt in die Streitkräfte ein. Die meisten NATO-Staaten würden für etwas vergleichbares vermutlich 10 Jahre brauchen zu einem zehnmal höheren Preis mit weniger Funktionalität und Nutzerfreundlichkeit. Innovationszyklen, Entwicklungs- und Testzeiträume in den NATO-Staaten müssen radikal schneller werden als die heutigen behäbigen Prozesse der Beschaffung von Rüstungsgütern. Hier braucht es einen echten Paradigmenwechsel – auch mit völlig neuem Personal, dem leichteren Zugang neuer Firmen und Start-Ups zu Vergabeverfahren und neuen Ideen im Verteidigungsbereich.

Getrieben durch Datenerhebung und Datenanalyse gibt es mittlerweile grundsätzlich neuartige Ideen zur Lösung militärischer Probleme, die gänzlich andere Wege gehen als jene, die auf die stetige Weiterentwicklung bestehender Plattformen und Prozesse ausgerichtet sind. Diejenigen, die offen für Disruption sind und wissen, wie man diese Innovationen nutzt, werden künftig militärisch im Vorteil sein.

4 Dezentrale Netzwerke und Mut zur Verantwortung

„Wir können uns deshalb gut gegen die Russen verteidigen, weil es im Grunde so ist, als würden wir gegen uns selbst von vor 10–15 Jahren kämpfen. Die Probleme der starren Hierarchien und der Unfähigkeit zu eigenen Entscheidungen und Improvisation kennen wir genau, aber wir sind in diesen Fragen seit 2014 völlig anders geworden." Mit dieser Aussage beschreibt ein erfahrener Kommandeur auf mittlerer Ebene ein entscheidendes Charakteristikum der ukrainischen Streitkräfte. Die ukrainischen Streitkräfte von heute sind in vielen Bereichen eher durch Netzwerke geprägt als durch klassische, starre Hierarchien.

Beginnend mit dem Oberbefehlshaber erwarten Vorgesetzte von militärischen Führern und Unteroffizieren, die eine wichtige Rolle spielen, nicht nur, dass sie viele eigenständige Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen, sie fordern diese sogar offensiv ein. Diese Betonung des eigenständigen Handelns und der netzwerkartigen Strukturen der Zusammenarbeit in den Streitkräften geht weit über das militärische Verständnis von Auftragstaktik hinaus.

Die Streitkräfte der Ukraine in den Jahren 2022 und 2023 sind weitgehend von ihren Erfahrungen in der Kriegsführung seit 2014 geprägt. Viele sehr gut qualifizierte und hochmotivierte Männer und Frauen mit soliden Erfahrungen im zivilen Leben sind nach der ersten militärischen Intervention Russlands im Jahr 2014 freiwillig in das Militär eingetreten. Die sehr aktiven und leistungsfähigen horizontalen Strukturen der ukrainischen Zivilgesellschaft schwappten zu einem großen Teil auf die Streitkräfte über. Dort beschleunigten sie einen Kulturwandel hin zu Eigenverantwortung, Netzwerkstrukturen und Aufgabenerledigung in fließenden Matrixstrukturen, die sich für spezielle militärische Aufgaben zusammenfinden und sich dann wieder auflösen.

Die Ukrainer haben Stabsstrukturen und Bürokratie weitgehend vom sowjetischen Erbe befreit und halten diese vergleichsweise schlank. Militärische Führer heben weniger auf starre Prozesse ab, sondern weisen persönlich zurechenbare Verantwortung von oben zu. Gleichzeitig fordern Führer der unteren und mittleren Ebene die Übertragung von Eigenverantwortung auch gerade offensiv ein. Meldungen nach oben werden oft gemacht, um über eigene Entscheidungen zu informieren und nicht, um Verantwortung nach oben weiterzuschieben.

Graph: Präsident Selenskyj zeichnet Soldaten aus, Dezember 2023

Unteroffizieren kommen in diesen Prozessen eine besondere Rolle und Verantwortung zu. Sie drängen auf mehr Verantwortung und sind bereit, dabei Risiken einzugehen, Entscheidungen zu treffen und ihr Handeln an die Realitäten des Schlachtfeldes anzupassen, ohne ständig nach Zustimmung und Deckung von oben zu fragen. Militärische Führungskräfte in den heutigen ukrainischen Streitkräften erlangen die notwendige Führung oft organisch durch Kompetenz und Erfahrung, insbesondere aufgrund persönlicher Kriegserfahrungen im Donbass seit 2014. Sie üben oft Führung und Verantwortung aus, die abseits von formaler Hierarchie und Rang steht – das ist erlaubt und sogar erwünscht.

Insbesondere militärische Führungskräfte der mittleren Ebene (aber eigentlich fast alle ukrainischen Truppen) kommunizieren in allen Situationen sehr intensiv und sehr oft horizontal, um die hierarchische Kommunikation des Meldewesens und der Befehlserteilung zu ergänzen. Höhere Führungs- und Stabsebenen begeben sich oft bewusst in eine Koordinations- und Unterstützungsrolle, um Versuche einer granularen Top-Down-Steuerung zu vermeiden. Der Oberbefehlshaber, General Saluschnyj, lebt diese Führungskultur selbst vor und fordert sie in seinen Streitkräften offensiv ein.

Sehr bemerkenswert ist dabei, in welchem hohen Ausmaß Lageanalyse, Entscheidungsvorbereitung, Entscheidungsfindung, Befehlsgebung und Rückmeldungen der Ausführung ausschließlich mündlich erfolgen. Die dezentralen und manchmal fast anarchischen Netzwerke innerhalb der ukrainischen Streitkräfte sind das Ergebnis umfangreicher Bemühungen um eine Modernisierung des Systems. Diese Bemühungen begannen an der Spitze und markieren einen Generationssprung – selbst der derzeitige Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ein Vier-Sterne-General, ist gerade einmal 50 Jahre alt. Die Netzwerke entstanden aus dem immensen Veränderungsdruck von innen, vor allem seit 2014. Bei der Verteidigung der Ukraine haben diese Netzwerkstrukturen und unabhängigen Entscheidungsprozesse enorme Vorteile in Bezug auf Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit an neue Situationen und hohe Reaktionsfähigkeit aufgewiesen. Sie haben auch gezeigt, dass sie ihrem Gegner enorme Probleme bereiten, wenn es darum geht, das Lagebild und die Kriegsereignisse zu verstehen.

Im weiteren Verlauf des Krieges wurden jedoch Schwächen in diesen Strukturen und in der internen Kultur der ukrainischen Streitkräfte deutlich. Die operative Führung und Kontrolle ab Brigadeebene und aufwärts ist schwierig und wenig geübt. Weitgehend selbständig agierende Einheiten und Führer haben erkennbar Mühe, sich für größere Angriffe wieder in einen Verband einzugliedern. Das Umschalten von einem dezentralen Verteidigungsmodus auf einen systematischen, disziplinierten Angriffsmodus, der für die Wirkung als größere Formation wichtig ist, gelingt bisher nicht gut genug.

Diese Schwierigkeit ist sicher nicht einfach aufzulösen. Dennoch lassen sich für NATO-Streitkräfte einige wichtige Lektionen lernen. Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit und die bedeutsame Fähigkeit zur Überraschung des Gegners erfordern, auf eine einfache Formel gebracht, weniger Stäbe und mehr Truppe. Zu detaillierte militärische Planungen, zu steifes Führungsverhalten, zu granulare Steuerungsideen von oben und zu bürokratische interne Abläufe müssen unbedingt vermieden werden, wenn man sich gegen russische Großangriffe erfolgreich verteidigen will. Es lohnt sich sehr, die schlanken Verfahren der ukrainischen Verteidiger einmal mit den Prozessen der großen Militärbürokratien vieler NATO-Streitkräfte zu vergleichen und die ukrainischen Innovationen gezielt für das Aufbrechen mancher althergebrachten Strukturen innerhalb der NATO zu nutzen.

Die ständige Anpassung der operativen Führung auf höheren Ebenen an Entscheidungen der verantwortlichen Führungskräfte auf mittleren Ebenen mit den damit verbundenen vielen Freiheitsgraden verbessert die Schlagkraft der Streitkräfte. Netzwerke und Matrixstrukturen stellen sehr hohe und neue Anforderungen an die Personalauswahl sowie an Schulungen und Übungen. Die auf Verantwortungsübernahme, Kreativität und Agilität ausgerichtete Personalauswahl stößt angesichts der Wettbewerbssituation der Streitkräfte auf dem Arbeitsmarkt in vielen Ländern an ihre Grenzen. Für die zukünftige Ausbildung von Offizieren und Generalstäben sind daher Trainingskonzepte notwendig, die Selbstständigkeit, Kreativität, Denken und Handeln in Netzwerken sowie Matrixstrukturen und -ansätze fördern und die bewusst aus der starren Struktur von Lagebesprechungen und formalen Entscheidungsverfahren ausbrechen.

Natürlich muss nicht alles schriftlich festgehalten werden, und es muss auch nicht nach einer Entscheidungssitzung in weitgehend unverständlicher bürokratischer Sprache wieder aufgeschrieben werden. Die mündliche Erteilung von Befehlen fördert und fordert Eigenverantwortung. Ob dies zu Spannungen mit dem Prinzip der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte führen könnte, müsste geprüft werden, ist aber sicherlich eine Überlegung wert.

Die Förderung von Führung durch Kompetenz und Erfahrung und die Förderung einer Kultur des Respekts vor Kompetenz und Erfahrung, auch parallel zu formalen Hierarchien, ist angesichts der Erfahrungen der Ukraine eine kontinuierliche Aufgabe, die es sich lohnt zu verfolgen. Nichts ist erfolgreicher als Erfolg. Wenn die Erfahrungen aus der ukrainischen Abwehr gegen den Großangriff Russlands und die Erfolgsfaktoren der Netzwerkstrukturen, der verantwortungsvollen Führung und der internen Kultur der Streitkräfte der Ukraine beherzigt werden, kann dies weitreichende Folgen für die Unteroffiziersausbildung, die Offiziersausbildung, die Militärakademien und die Generalstabsausbildung haben. Sie kann sogar Wege für einen notwendigen radikalen Kulturwandel aufzeigen. Die Entwicklung neuer Konzepte für die Ausbildung und Verantwortung der Unteroffiziere sowie die Entwicklung der Fähigkeiten junger Offiziere werden notwendig sein.

Die Vorteile dezentraler Netzwerke in den Streitkräften für Verteidigungsoperationen wurden und werden von der Ukraine eindrucksvoll demonstriert. Die Streitkräfte der Ukraine überstanden in beeindruckender Manier allein einen russischen Großangriff auf vier Vektoren, brachten ihn zur Kulmination und gingen zum Gegenangriff über. Die Nachteile der dezentralen Strukturen für größere Angriffsoperationen und die enormen Schwierigkeiten beim Übergang von dem einen in den anderen Modus sind gleichzeitig aber auch deutlich zu erkennen. Verfahren und Anforderungen an Führer und Truppe unterscheiden sich in diesen Modi in extremer Weise voneinander.

Genauer gesagt, ergibt sich aus dieser Lektion aus der Ukraine eine wichtige Frage für zukünftige NATO-Streitkräfte, die in der weiteren Forschung untersucht werden sollte: Ist es möglich, in dezentralen Netzwerken mit hohen Freiheitsgraden auf niedrigeren und mittleren Ebenen eine flexible, nahezu fließende Verteidigung durchzuführen und zu einer straffen, einheitlichen Führung großer Offensivoperationen mit wenig Entscheidungsspielraum und sehr hohen Anforderungen an Koordination und Disziplin mit derselben Truppe überzugehen? Oder wäre eine andere Herangehensweise der Streitkräfte mit unterschiedlichen Vorgehensweisen und Binnenkulturen für Verteidigung und Angriff sogar ein erfolgversprechender Weg?

5 Das Schlachtfeld formen

Wir alle kennen dieses Video: Ein ukrainischer Bauer mit einem breiten Grinsen im Gesicht, der triumphierend einen völlig intakten russischen modernen T-80-Kampfpanzer mit seinem Traktor zieht. Es wurde zu einem der wichtigsten Symbolbilder des ukrainischen Widerstands – als Meme in sozialen Netzwerken ebenso wie auf T-Shirts. Im Frühjahr 2022 gingen sehr viele Videos und Bilder viral, die Russland in Verlegenheit brachten und gleichzeitig die Coolness und den Humor der Ukrainer ins Rampenlicht rückten. Verlassene russische Kampfpanzer und Schützenpanzer wurden damals in der Ukraine häufig an Straßenrändern gefunden. Ohne Treibstoff und Munition war ihr Angriff „ausgehungert."

Ebenso um die Welt gingen Bilder vom Schrott ganzer Kolonnen russischer Militärtechnik, die beim Versuch des Anmarsches von ukrainischer Artillerie vollständig zerstört wurden. Bilder wie diese illustrieren den Erfolg der indirekten Kampfweise der ukrainischen Verteidiger. Die ukrainischen Streitkräfte verlegten sich in diesem Krieg von Anbeginn darauf, direkte und frontale Auseinandersetzungen mit russischen Kampfeinheiten möglichst zu vermeiden. Stattdessen verteidigen sie sich hoch mobil, locken die russischen Angreifer geduldig in Hinterhalte und Kill Zones und konzentrieren sich auf die Bekämpfung der russischen Logistik für Treibstoff und Munition. Diese taktische rote Linie zieht sich als ukrainisches Erfolgsrezept durch den gesamten Kriegsverlauf: Die Ukraine konzentriert die eigenen Ressourcen und Angriffsoperationen darauf, das Schlachtfeld zu formen.

Graph: Ukrainische Briefmarke von 2022

Bei der Verteidigung der Ukraine konnte man Operationen fast wie aus militärischen Lehrbüchern sehen. Die ukrainischen Verteidiger beobachten heranrollende russische Kolonnen bereits aus großer Entfernung sehr genau. Dafür haben sie von Satellitenbildern über Handyvideos bis zu Drohnen-Videofeeds sehr viele verschiedene und gute Instrumente. Die ukrainischen Verteidiger definieren eine präzise Kill Zone und lassen dann geduldig die russischen Vorauskräfte passieren. Sie warten nervenstark ab, bis die feindlichen Hauptkräfte mit Masse in der Kill Zone eintreffen und bekämpfen sie dann mit präzisen Artillerieschlägen bis zur Vernichtung. Die ukrainische Artillerie wechselt daraufhin schnell die Stellung. Der Prozess der mobilen Verteidigung beginnt von vorn. Die Streitkräfte wirken auf diese Szenarien gut vorbereitet. Insgesamt ist das aus der Perspektive von Streitkräften auch in der NATO nicht besonders ungewöhnlich oder überraschend.

Um mobile Verteidigung erfolgreich durchzuführen, braucht es aber eine sehr gute Übersicht über die Lage, gute Ausbildung, viel Übung und ein hohes Maß an Disziplin. All das weisen die Streitkräfte der Ukraine auf. Die Anwendung dieser Methoden der mobilen Verteidigung und des Verzögerungsgefechts unter kluger Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Raumes wird für die Ukraine durch den in diesem Bericht bereits beschriebenen datengetriebenen Kampf begünstigt. Eine exzellente Ausbildung, tiefes Grundverständnis und die Fähigkeit zu hoher Präzision für die Artillerie bringen die Ukrainer von Haus aus mit, denn sie haben die postsowjetischen Traditionen der Artillerie durchaus fortgeführt und ausgebaut. Diese Anwendung der mobilen Verteidigung unterstreicht eine Grunderkenntnis des erfolgreichen ukrainischen Widerstands gegen die russischen Angreifer: Mobilität und Präzision schlagen die schiere Masse.

Während die mobile Verteidigung der Ukrainer letztlich klassisch anmutet, stellt sich das für viele der ukrainischen Angriffsoperationen anders dar. In der ukrainischen Kampfweise ist zunehmend eine Tendenz erkennbar, in der formende Operationen (shaping operations), die in klassischem Verständnis größere Angriffe nur vorbereiten, zu den eigentlichen Angriffsoperationen werden. Mit hoher Mobilität umgehen die Ukrainer die feindlichen Kräfte und vermeiden direkte Konfrontationen. Die Streitkräfte der Ukraine greifen auch im Angriffsmodus möglichst nicht die russischen Kampftruppen an, sondern bekämpfen ständig Eisenbahnbrückenköpfe, Munitionsdepots, Treibstofflager, Munitions- und Treibstofftransporte, Zwischenlager, Truppenunterkünfte, Gefechtsstände, Führungs- und Kommunikationseinrichtungen.

Aus dem anhaltenden Formen des Schlachtfelds machen die Ukrainer damit eine konsequente Slice and Starve Taktik, die dazu führt, dass russische Kampftruppen am Ende ohne Treibstoff und Munition bleiben, dass russische Einheiten ohne Befehle und Kommunikation nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln, dass russische Verbände sich letztlich sogar ohne größere Schlachten fluchtartig zurückziehen müssen oder dann eben auch verlassene russische Kampffahrzeuge von ukrainischen Traktoren abgeschleppt werden. Die erfolgreichen ukrainischen Offensiven in Richtung Kupjansk und vor allem auf dem Südwestufer des Dnipro, die zur bisher flächenmäßig größten Befreiung von Gebieten von den russischen Besatzern führten, waren fundamental durch die Taktik des Slice and Starve geprägt.

Aus NATO-Perspektive lässt sich an dieser Stelle berechtigt einwenden, dass die Streitkräfte der Ukraine wahrscheinlich aus der Not heraus zu dieser Taktik gezwungen waren und sind. Es fehlt den ukrainischen Streitkräften an mechanisierten Kräften und an starken Verbänden, die im Gefecht der verbundenen Waffen angreifen könnten. Hat man dagegen als NATO starke mechanisierte Verbände zur Verfügung und kann mit verbundenen Waffen in Großverbänden angreifen, muss man sich nicht auf langwierige formende Operationen verlegen, sondern kann direkt und hart zuschlagen und sich durchsetzen. Das ist teilweise richtig.

Doch gleichzeitig lohnt es sich unbedingt, von den innovativen ukrainischen formenden Operationen zu lernen. Schaut man ins ukrainische Gelände, sieht man schnell die weite flache Steppe, sehr viele mittlere und kleine Gewässer, wenige intakte Brücken und noch weniger Brücken, die schwere Kampfpanzer und Schützenpanzer tragen könnten. Dazu gibt es viele Sumpflandschaften, Wälder und eine sehr lange Frontlinie mit großen zurückzulegenden Entfernungen, selbst auf den inneren Linien der Kommunikation. Für schlagkräftige schwere mechanisierte Verbände mit Material, das oft 50–60 Tonnen und mehr wiegt, wäre das alles andere als ein Spaziergang oder ein einfacher Durchmarsch. Entscheidend ist hier die militärische Mobilität.

Für NATO-Streitkräfte sollten die ukrainischen Erfolge der mobilen Verteidigung und der formenden Operationen vor diesem Hintergrund ein Katalysator dafür sein, um neben schweren Kräften stärker auch auf mittlere und leichte Kräfte mit anderer Ausrüstung und anderen Einsatzgrundsätzen zu setzen. Dazu gehören Radpanzer, Radschützenpanzer und Artillerie auf Rädern mit geringerem Gewicht, höheren Geschwindigkeiten und größeren Reichweiten. Die Streitkräfte der NATO brauchen auch mehr mobile Brücken und verfügbare Fähigkeiten zur schnellen Überquerung von Gewässern, die dezentral in vielen Einheiten direkt mitgeführt und schnell und häufig genutzt werden können.

Klar wird mit Blick auf die Erfahrungen in der Ukraine aber auch: Mobile Verteidigung und der indirekte Ansatz für Angriffe brauchen viel Zeit. Für die Befreiung des Südwestufers des Dnipro bei Cherson benötigten die Ukrainer von August bis November 2022. Die Taktiken der mobilen Verteidigung und der indirekte Ansatz können also nur greifen, wenn die Angriffe der gegnerischen Kräfte durch natürliche Hindernisse, gut ausgebaute Stellungen oder urbanes Gelände aufgehalten werden, ansonsten gehen diese Ansätze mit einem fortwährenden Gebietsverlust einher.

Für die beteiligten Kommandeure und Soldaten erfordern mobile Verteidigungseinsätze immer Schnelligkeit, Improvisationsgeschick und eigenständige Entscheidungsfähigkeit. Diese Vorgänge sind sehr anspruchsvoll und erfordern ein hohes Maß an Ausbildung und Übung. Die Doktrin, der Aufbau und die Ausbildung der Streitkräfte in der NATO stehen dabei vor enormen Herausforderungen: Während Mobilität, Schnelligkeit und Präzision alle Vorteile der Masse übertreffen, ist aufgrund der veränderten Einsatzarten und des Wechsels zwischen Improvisationsfreiheit und harter Disziplin von oben, die sehr hohe Anforderungen an die mentalen Fähigkeiten des Personals stellen, ein enorm hohes Ausbildungsniveau erforderlich. Seit dem Zustrom von Freiwilligen im Jahr 2014 haben die ukrainischen Streitkräfte viele Mitarbeiter aller Dienstgrade mit hohen Bildungsabschlüssen und praktischen Berufserfahrungen gewonnen. Die Streitkräfte der Ukraine profitieren von dieser Expertise, insbesondere bei der Gestaltung von Operationen – die Übertragbarkeit auf NATO-Streitkräfte ist nicht einfach oder erfordert zumindest Änderungen in der Personalauswahl und -ausbildung. Dennoch gibt es wichtige spezifische Lektionen zu lernen, um Verluste zu vermeiden und die Kosteneffizienz der Kriegsführung zu verbessern, insbesondere wenn mehrere Kriegsschauplätze oder Frontabschnitte gleichzeitig bedient werden müssen.

6 Drohnen, Drohnen, nochmals Drohnen

„Kaufen Sie einfach alle weltweit hergestellten Drohnen auf und geben Sie sie uns!" So beantwortete einer der Befragten für diese Analyse die Frage des Verfassers, wie wir der Ukraine helfen können. Auch wenn dies wie eine Übertreibung klingen mag, erscheint diese Forderung angesichts der Erfahrungen der Ukraine während des Krieges durchaus vernünftig. Drohnen sind in der ukrainischen Verteidigung gegen die russische Aggression allgegenwärtig. Ohne Drohnen geht nichts mehr. Um jetzt und in Zukunft einen Krieg gewinnen zu können, sind Drohnen ein notwendiger Teil des Arsenals – und sie werden in bisher unvorstellbaren Mengen benötigt.

Neben militärischen Spezialdrohnen haben die Streitkräfte der Ukraine seit Beginn des Krieges schnell und pragmatisch alle Formen und Varianten kommerzieller handelsüblicher Drohnen integriert. Drohnen wurden für die ukrainische Verteidigung unerlässlich – und gleichzeitig zu einem billigen Verbrauchsmaterial. Ihr Vorrat ist auf dem Schlachtfeld in der Tat schnell erschöpft und muss ständig ersetzt werden.

Die ukrainischen Streitkräfte setzen Drohnen zur Artillerieaufklärung und Feuerführung ein. Sie werden zum Beispiel in Form von „herumlungernder Munition" für direkte Angriffe auf russische Fahrzeuge, Luftabwehrsysteme und Truppen eingesetzt. Aufwendigere Drohnensysteme wie die türkische Bayrakhtar TB-2 mit einem eigenen Ökosystem für Datenmanagement und -kontrolle stellen das obere Ende des breiten Spektrums des militärischen Einsatzes von Drohnen in diesem Krieg dar. Am anderen Ende des Spektrums hat sich jeder Trupp, jeder Zug und jede Infanteriekompanie auf seine eigenen, meist billigen kommerziellen Drohnen verlassen, die über ihnen schweben und den Weg und die Umgebung erkunden, bevor sie Aktivitäten im Feld ausführen.

Graph: Ein Exemplar der türkischen Drohne Bayrakhtar TB-2

Drohnen, die mit Wärmebildgeräten und Nachtsichtkameras ausgestattet sind, kreisen über Feldlagern, Stellungen, Schützengräben, Depots und wichtigen Infrastrukturen, um Überwachungen durchzuführen. Mit Drohnen werden Minenfelder ausgekundschaftet und direkt auf digitalen Karten eingezeichnet. Und sie liefern Lebensmittel, Munition und Versorgungsgüter in schwer zugängliche Gebiete oder an kleine vorgeschobene Einheiten wie Patrouillen oder Artilleriebeobachter. Die Einsatzmöglichkeiten von Drohnen haben sich während des Krieges weiter ausgeweitet, und auch ihr Bedarf ist weiter gestiegen. Dabei entwickeln und bauen die ukrainischen Streitkräfte während des anhaltenden Konflikts weiterhin neue Drohnen und basteln neue Modifikationen.

Ukrainische Soldaten experimentieren ständig mit diesen Drohnen und teilen das gewonnene Wissen routinemäßig durch horizontale Kommunikation innerhalb der Truppe miteinander. Während zu Beginn des Krieges beispielsweise improvisierte kommerzielle Drohnen, die in der Lage waren, einfache Granaten ferngesteuert abzufeuern, noch als dubiose Spielereien belächelt wurden, sind sie inzwischen fester Bestandteil der Kriegsführung gegen Schützengräben und bestimmte Arten von feindlichen Fahrzeugen geworden – mit speziell ausgebildeten Bedienern und detaillierten Einsatzprinzipien.

In vielen Fällen werden die kommerziellen Drohnen, die massenhaft für militärische Einheiten benötigt werden, dabei absolut dezentral beschafft: durch Spenden der lokalen Bevölkerung, Organisationen, die international Geld für Drohnen sammeln und in die Ukraine bringen, oder durch kommerzielle Spender.

Die Führung der Streitkräfte der Ukraine erkannte die militärische Bedeutung des ubiquitären Drohneneinsatzes dabei sehr schnell und passte Strukturen und Ausbildung der Streitkräfte rasch an. An zentraler Stelle richteten die Streitkräfte kurz nach Kriegsbeginn eine Drohnenschule für alle Truppen ein, die in blitzartig entwickelten standardisierten Lehrgängen und Curricula Grundlagenwissen zu Technik, Einsatzzwecken und Drohnenbedienung vermittelt. Jetzige und künftige Drohnenoperateure aus allen Truppengattungen müssen diese Lehrgänge mittlerweile bereits seit einigen Monaten durchlaufen. Der inhaltliche Fokus der Ausbildung liegt dabei nicht auf starren Bedienungsvorschriften für bestimmte Modelle oder dem Pauken von Vorschriften und Taschenkarten, sondern bewusst auf Grundlagenwissen, das die ukrainischen Soldaten in die Lage versetzen soll, schnellstmöglich mit unterschiedlichsten Drohnentypen zurechtzukommen.

Nach dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde viel über die Bedeutung von Drohnen für die zukünftige Kriegsführung geschrieben. Der Fokus lag bisher weitgehend auf großen Aufklärungsdrohnen und Drohnensystemen für die unbemannte Bekämpfung von Bodenzielen. Die ukrainische Abwehr des russischen Angriffskriegs unterstreicht diesen Trend erneut. Vor allem türkische Drohnensysteme haben sich immer wieder als besonders leistungsfähig erwiesen.

Darüber hinaus hat die ukrainische Verteidigung gegen die russische Aggression aber das Potenzial, Drohnen unterschiedlichster Formen und Anwendungszwecke zum ganz breiten Durchbruch in alle militärischen Truppengattungen und Bereiche zu verhelfen. Die zu lernenden Lektionen für Streitkräfte innerhalb der NATO sind vielfältig und weitgehend.

Die Streitkräfte der NATO-Länder werden in Zukunft große Mengen an Drohnen für die unterschiedlichsten Zwecke benötigen. Neben hochspezialisierten und aufwendig entwickelten militärischen Drohnen werden für die Streitkräfte innerhalb der NATO in Zukunft auch große Mengen an vergleichsweise einfachen und günstigen Drohnen wichtig sein. Der weit verbreitete militärische Einsatz von Drohnen ist in der Tat die neue Realität der modernen Kriegsführung. Wenn sich die Nato-Streitkräfte ausreichend verteidigen und siegfähig werden wollen, müssen sie dringend die extrem langwierigen und teuren Entwicklungsprogramme für militärische Drohnen kritisch hinterfragen. Zumindest parallel zu den lange laufenden Entwicklungsprogrammen wird die sofortige Beschaffung marktfähiger Systeme und der schnelle Bau und Einsatz einfacherer Drohnensysteme in großen Stückzahlen zwingend erforderlich sein.

Bisher war die kommerzielle Massenproduktion von Drohnen strukturell von China abhängig. Hier ist eine technologische und industrielle Diversifizierung dringend notwendig. Die Ausbildung sollte sich auf Grundkenntnisse und -verständnisse konzentrieren, die darauf abzielen, auch Improvisation und Experimentieren sowie die Beherrschung verschiedener und zukünftiger Drohnentypen zu ermöglichen.

Der allgegenwärtige Einsatz von Drohnen verändert auch die Anforderungen an die Luftverteidigung. Es macht wenig Sinn, mit exorbitant teuren Lenkflugkörpern gegen billige Drohnen oder schnell und kostengünstig replizierbare Drohnenschwärme vorzugehen. Deutlich günstigere Lenkflugkörper und andere Systeme für kinetische oder elektromagnetische Gegenmaßnahmen oder gar die Entführung von Drohnen und Drohnensystemen werden schnell benötigt.

7 Kriegführung in kleinen Einheiten

Ein Lieferbote mit einem dieser typischen eckigen Rucksäcke auf einem Fahrrad saust durch die abendliche Ukraine. Er gelangt zu einem Schützengraben, wo plötzlich hinter einem Busch ein gut getarnter Soldat auftaucht. Aus dem knallig bunten Rucksack liefert der Bote die Bestellung aus: ein Nachtsichtgerät und ein paar Packungen Munition. Dieses Video, das im Sommer 2022 in der Ukraine in Telegram-Kanälen kursierte, ist einer von sehr vielen humorvollen Beiträgen, mit denen Streitkräfte und Gesellschaft in der Ukraine sich fortlaufend motivieren. Doch gibt es hier einen wahren Kern. Sehr kleine, sehr weitgehend selbständig operierende Einheiten spielen in diesem Krieg eine signifikante Rolle für die militärischen Erfolge der Ukraine. Wir erleben ein verblüffendes Revival des Jagdkampfes. Bei der Verteidigung Kyjiws im Frühjahr, in den Wäldern bei Isjum im Spätsommer, aber auch mit Blick auf die kilometerlange Kolonne russischer Fahrzeuge, an die sich alle Beobachter des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine noch lebhaft erinnern, wurden kleine, unabhängige, hochmobile ukrainische Einheiten immer wieder sichtbar. Berühmt wurden auch die ukrainischen Jagdkommandos auf Quads, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchten, russische Konvois und Fahrzeuge mit Panzerabwehrwaffen angriffen und schnell wieder verschwanden.

Es gelang den ukrainischen kleinen Trupps sehr erfolgreich, den russischen Angreifern Verluste in asymmetrischer Weise beizubringen. Ausgestattet mit sehr guter, digital getriebener Gefechtsfeldübersicht verfügen diese Einheiten meist über improvisierte Mobilität, die von Pickups und handelsüblichen Minibussen bis hin zu Quads und lautlosen Elektrofahrrädern reicht. Die kleinen Einheiten verfügen fast immer über eigene kleine Drohnen und Nachtsichtfähigkeiten. Kern der Bewaffnung dieser leichten Infanterie sind Fire and Forget-Systeme wie Javelin, NLAW, Stugna-P und Stinger. Darüber hinaus genießen die kleinen Einheiten einen großen Handlungsspielraum in ihren jeweiligen Einsatzgebieten und passen sich sehr flexibel an die Gegebenheiten und Situationen vor Ort an.

Besonders effizient setzen die Streitkräfte der Ukraine die kleinen Einheiten in urbanem Gelände ein. Mit systematisch und detailliert für Häuserkampf und Kampf in urbanem Gelände ausgebildeten kleinen Einheiten konnten die Streitkräfte der Ukraine enorme Verluste bei anrückenden russischen Einheiten verursachen und in manchen Fällen russische Großangriffe sehr lange verzögern oder sogar stoppen.

Die Streitkräfte der Ukraine bauten die kleinen Einheiten für den Jagdkampf gezielt nach den Erfahrungen des Krieges im Donbass seit 2014 auf. Dabei wurden Sie auch durch die mögliche hohe Effizienz motiviert: Auch ohne gepanzerte Fahrzeuge und starke mechanisierte Kräfte lassen sich durch kleine, gut ausgebildete, hochmobile Einheiten vergleichsweise kostengünstig militärisch sehr wichtige Ergebnisse erzielen. Der Jagdkampf ist für die Ukraine billiger als der Kampf mit großen gepanzerten Verbänden und eröffnet die Chance asymmetrisch sehr hohe Kosten auf der russischen Seite zu verursachen.

Der Erfolg des Jagdkampfs in der Ukraine wird dabei durch drei Faktoren möglich: Zum Ersten verfügen die Streitkräfte der Ukraine seit dem ersten Tag des Krieges über bessere situational awareness und ein genaueres Lagebild als die russischen Angreifer. Zum Zweiten sind die ukrainischen kleinen Einheiten hochmobil, da sie alle greifbaren Fahrzeuge einfach nutzen. Zum Dritten sind sehr präzise und einfach zu handhabende Waffensysteme aus eigener Produktion und vor allem durch die massenweisen Lieferungen der Partner in großen Mengen vorhanden. Der Jagdkampf wird dadurch effizient und gleichzeitig ist er ausgesprochen voraussetzungsvoll. Die kleinen Einheiten benötigen viel Ausbildung und Erfahrung. Sie brauchen genaueste Kenntnis des Geländes – am besten tiefe eigene Ortskenntnis. Von überragender Bedeutung ist viel Übung unter möglichst realen Bedingungen, gerade für schwieriges Gelände oder den Kampf in urbanen Gebieten. Die Ukrainer haben Jagdkampf seit 2014 intensiv unter realen Bedingungen geübt, fast alle der Führer und Unterführer haben mehrere Durchgänge im Einsatz im Donbass absolviert. Außerdem ist für den Jagdkampf eine granulare Logistik notwendig, die im Falle der Ukraine durch die dezentralen Strukturen, die mental sehr breit verankerten Traditionen der Partisanen und Kosaken und das Engagement der breiten Zivilgesellschaft in der Ukraine stark begünstigt wird.

Für die NATO hat diese unerwartete Wiederbelebung des Jagdkampfes eine Reihe von Konsequenzen, auch auf doktrinärer Ebene. Seit dem Kalten Krieg hat sich die Rolle der Jäger-Einheiten drastisch reduziert. Aber die Erfahrungen der Ukraine unterstreichen, dass es sich lohnen könnte, eine erneute größere Rolle für kleine Einheiten zu überdenken. Für die Truppenstrukturen innerhalb der NATO könnte dies bedeuten, dass leichte Infanteriebataillone oder Kompanien mit Fähigkeiten zum hochmobilen, asymmetrischen Kampf in Zukunft wieder in mechanisierte Brigaden integriert werden.

Ausgestattet mit einer Reihe von Mobilitätsoptionen bis hin zu leisen, schnellen Elektrofahrzeugen und mobilen Waffensystemen könnte diese leichte Infanterie den in der Ukraine sehr erfolgreich angewandten asymmetrischen Ansatz auf die NATO übertragen. Und obwohl es sich in Bezug auf Ausbildung und berufliche Ausrichtung als schwieriger erweisen könnte, wäre es eine Überlegung wert, einige Infanterieeinheiten innerhalb der NATO-Streitkräfte für unkonventionelle Kriegsführung umzuschulen. Dies würde bedeuten, dass diese Truppen durch abgesessene Infanterieeinheiten deutlich stärker in Kommandooperationen und Taktiken des Häuserkampfes ausgebildet werden.

Angesichts der schieren Mengen, mit denen sie in der Ukraine eingesetzt wurden, ist es völlig klar, dass die Ausrüstung der Streitkräfte innerhalb der NATO erheblich erhöht werden muss, einschließlich Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrsystemen und Antidrohnensystemen. In der Folge müssen auch die Produktionskapazitäten für diese mobilen Waffensysteme für die leichte Infanterie deutlich erhöht werden.

Die granulare Logistik von Kleinbetrieben erfordert einen erheblichen Personaleinsatz. Die dezentrale Versorgung der Ukraine durch die Zivilgesellschaft wird sich nur schwer auf die Streitkräfte der NATO übertragen lassen. Um in Zukunft die Vorteile des Kampfes mit kleinen, unabhängigen Einheiten zu nutzen, wird die NATO militärlogistische Innovationen benötigen. Dazu gehören die Vorpositionierung von Ausrüstung, Waffen und Munition in territorial verteilten kleinen Depots, mehr Transportsysteme auf Basis von Standardcontainern und ein stärkerer Einsatz von Drohnensystemen für die militärische Logistik.

Insbesondere im Hinblick auf die Wiederbelebung der Kriegsführung kleiner Einheiten unterstreicht die Erfahrung der Ukraine, dass eine hohe militärische Leistung nur durch häufige, hochintensive Übungen unter realen Bedingungen erreicht werden kann. Das Potenzial einer neuen leichten Infanterie für den Jagdkampf ist erkennbar hoch; gleichzeitig sind die entscheidenden Qualitätsunterschiede in der Leistung enorm, die durch effektives und sehr intensives Training und vor allem durch konstante, hochintensive Übungen, insbesondere im Jagdkampf und im Kampf im urbanen Gelände, erzielt werden können. Nach dem Krieg sollten die Streitkräfte in der NATO klar in Erwägung ziehen, auch dafür ukrainische Ausbilder einzusetzen.

8 Intelligente Artillerie

Spricht man in diesen Tagen mit Artilleristen in der Ukraine, gerät man schnell in Gespräche, die an umfangreiche Autotests und Vergleichsportale erinnern: Die deutsche Panzerhaubitze 2000 ist gut geschützt, aber sie ist sehr schwer und kann für ukrainische Bedürfnisse zu wenig Schuss pro Tag abfeuern; bei der französischen Caesar funktioniert das computergesteuerte FAST-Hit-Feuersystem gut und es ist möglich, nach dem Abfeuern der Granaten schnell zu verschwinden; die polnisch-koreanische AHS-Krab ähnelt der Panzerhaubitze 2000 und ist besonders effektiv mit Excalibur-Präzisionsmunition, von der es aber leider zu wenig gibt; die gezogenen amerikanischen M-777 sind so leicht, dass sie problemlos mit Jeeps oder Pickups bewegt werden können. Es gibt auch erhebliche Unterschiede bei den Treibladungen, die berücksichtigt werden müssen, usw.

Niemand auf der Welt verfügt über so viel Wissen und Kampferfahrung mit so vielen verschiedenen Arten und Kalibern gezogener und selbstfahrender Artillerie wie die Streitkräfte der Ukraine. Dieses Wissen ist von unschätzbarem Wert – auch für die NATO-Streitkräfte. Und nüchtern muss festgestellt werden, dass es den ukrainischen Streitkräften dabei oft gelingt, die von Partnern gelieferten modernen Artilleriesysteme besser zu nutzen, als es die Streitkräfte der liefernden Nationen derzeit selbst können. Die traditionell für die Artillerie gut ausgebildeten und vorbereiteten Ukrainer entwickelten mit den zusätzlich gelieferten Geschützen, unterschiedlichen Munitionstypen und Treibladungen ein neues System der fortgeschrittenen, intelligenten Artillerie.

Der datengetriebene Kampf bildet auch die Grundlage für den Einsatz von Artillerie für die Streitkräfte der Ukraine. Die Datenfusion von Aufklärungsdaten aus einer Vielzahl von Quellen, von Artilleriebeobachtern und Handyfotos bis hin zu Drohnen-Feeds und Satellitenbildern, ermöglicht die schnelle Identifizierung von Zielen und deren Priorisierung nach ihrem Wert, ein Prozess, der zum Teil durch KI unterstützt wird. Sind die Ziele erfasst und priorisiert, werden sie in Abhängigkeit von der jeweiligen Reichweite der Systeme und der verwendeten Munition und Treibladungen per Datenübertragung den Geschützen im Gefechtsfeld zugeordnet, die im System eingeloggt sind. Die Geschütze bringen sich in Position und feuern auf das zugewiesene Ziel. Und noch bevor die Geschosse das Ziel treffen, verlässt das Artilleriegeschütz bereits die Feuerstellung, während eine Drohne über das Ziel fliegt und den Video-Feed an die Feuerleitstelle zurücksendet. Alle Daten während des gesamten Prozesses werden über Starlink übertragen, das eine konstante Konnektivität mit einer Satellitenkonstellation in niedriger Umlaufbahn bietet. Das Ergebnis ist shoot and scoot nahe an der Perfektion.

Die ukrainische Artillerie setzt die oben beschriebene Kill Chain mit beeindruckender Geschwindigkeit um, so dass es in vielen Fällen nur wenige Minuten von der Zielerfassung und -zuweisung bis zum shoot and scoot dauert. Natürlich gelingt dieses Verfahren bisher so nicht immer und nicht flächendeckend an der gesamten Frontlinie. Doch zeigen die Erfahrungen der Ukraine in der Verteidigung gegen den russischen Angriff gleichzeitig eine massive Renaissance der Artillerie in der Kriegführung und sie vermitteln Einblicke in die Zukunft des Artilleriekriegs mit Mobilität, Präzision und immer höheren Reichweiten.

Auch die Artillerie der Streitkräfte der Ukraine stützt sich dabei massiv auf Drohnen ab, häufig sogar billige und einfache Modelle, die aber bei der Zielerfassung und Feuerkontrolle schnell nahezu unverzichtbar geworden sind. Aber auch Handyfotos und Videos der Einschläge des eigenen Artilleriefeuers in Telegram-Kanälen oder Social-Media-Posts der Gegenseite werden live ausgewertet und für die Feuerkontrolle und Zielkorrektur genutzt.

Die ukrainische Artillerie verfügt über sehr gut ausgebildetes Personal mit soliden Grundkenntnissen. Selbst Soldaten, die Munition in die Geschütze laden, sind mit Parabeln und Flugbahnen, mit grundlegender Geografie und Physik vertraut. Besonders wertvoll ist auch der Erfahrungsschatz der ukrainischen Artilleristen. Sie kennen in der Regel nicht nur die Vor- und Nachteile verschiedener Geschütze, Munition und Treibladungen aus eigener Erfahrung, sondern auch unzählige Details und Tricks der komplexen Artilleriekriegsführung, die nur durch viel Übung und Gefechtsfelderfahrung gewonnen werden können.

Die Ukrainer sind zweifellos auch mit den Waffen, der Munition und den operativen Prinzipien ihres Gegners vertraut, auch zum Teil aus ihrer eigenen militärischen Erfahrung vor der Modernisierung und der Reform der ukrainischen Streitkräfte seit 2014. Diese ausgeprägte Kombination von Wissen hat zu einem erheblichen Leistungsvorteil beigetragen. Zum Beispiel können ukrainische Artilleristen verschiedene Geschütze in sich kreuzenden Flugbahnen so abfeuern, dass jedes Geschoss sein Ziel trifft, und gleichzeitig haben russische Artillerie-Radargeräte Schwierigkeiten, die Flugbahnen der Geschosse zu berechnen und ukrainische Feuerstellungen auszukundschaften. Dieses Beispiel zeigt, dass der Artilleriekrieg eine eigene Disziplin mit hoher Komplexität ist. Um diese hohe Komplexität zu meistern, braucht es reiche Erfahrung. Ein ukrainischer Gesprächspartner drückt es so aus: „Wenn du gut sein willst, musst du viel schießen."

Die Streitkräfte der Ukraine betreiben die verschiedenen Geschütze der gezogenen und selbstfahrenden Artillerie und der Raketenartillerie nicht getrennt, sondern verschmelzen zunehmend die verschiedenen Geschütze, Munition, Mobilitätsfähigkeiten und Reichweiten zu einem Gesamtsystem fortschrittlicher, intelligenter Artillerie. Die Reichweiten von Artilleriesystemen und Präzisionsmunition von 155-mm-Artilleriesystemen wie Excalibur auf 50–70 km gehen nahtlos über zu Geschützen wie HIMARS, Mars 2 oder M270 mit GMLRS-Munition auf bis zu 90 km. Alle verschiedenen Systeme sind mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Reichweiten integriert und erhalten geeignete Ziele, die sie angreifen müssen. Der Schlüssel liegt in der Software, die die Hardware zusammenbringt. Auch zukünftige Geschütze oder Munition mit größeren Reichweiten können schnell in das ukrainische Artilleriesystem integriert werden.

Bei all den beeindruckenden Stärken der ukrainischen Artillerie gibt es aber auch erkennbare Schwächen, an denen weitergearbeitet werden muss. Die Fähigkeiten für Counter Battery sind im Vergleich zu den Fähigkeiten der Artillerie immer noch beklagenswert unterentwickelt, und die Koordination für das Feuer der Abwehrbatterien auf höheren Kommandoebenen ist zu schwach. Die russische Artillerie kann oft viel zu lange völlig unangefochten feuern. Die ukrainische Munitionslogistik hat es teilweise versäumt, mit dem Tempo der Lieferungen neuer Geschütze, verschiedener Kaliber und verschiedener Munitionstypen in Bezug auf ihre Erweiterung und Robustheit Schritt zu halten. Neben dem Mangel an Munition verhindert in einigen Fällen eine unzureichende Munitionslogistik den effektiven Einsatz der Artillerie in ihrer vollen Stärke.

Wartung und Reparatur – oder der Austausch von Rohren – können darüber hinaus oft nur mehrere hundert Kilometer von Einsatzorten entfernt durchgeführt werden. Diese Ineffizienz führt häufig zu zusätzlichen Wartezeiten für Bahnkapazitäten und Bahntransporte. Die Gesamtauswirkungen der Artillerie-Renaissance im Krieg Russlands gegen die Ukraine werden erheblich sein und zeichnen sich vielerorts bereits ab. Dazu gehören vor allem die Neuaufstellung deutlich größerer Artilleriekräfte innerhalb der NATO-Streitkräfte und die Notwendigkeit, die Produktionskapazitäten für Material und Munition erheblich zu erhöhen.

Graph: Von LKW gezogene ukrainische M777 Haubitzen im Jahr 2022

Die NATO und die Streitkräfte innerhalb der NATO sollten das in der Ukraine gesammelte Wissen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Systeme der gezogenen und selbstfahrenden Artillerie systematisch erforschen und auswerten. Die Daten, die durch den Einsatz einer Vielzahl von Geschützen, Munition und Treibladungen in einem echten Artilleriekrieg mit hoher Intensität gesammelt werden, müssen als Grundlage für die weitere Entwicklung von Ausrüstung, Strategie und Taktik verwendet werden.

Bahnbrechend ist der Einsatz der Artillerie als System von Systemen, die auf einer Daten- und Datenübertragungsinfrastruktur basieren, in der Artillerie- und Raketenartilleriegeschütze mit unterschiedlicher Mobilität, Reichweite und Munition eingeloggt sind und gleichzeitig eingesetzt werden können. Neben verschiedenen Waffen und Munitionstypen wird die Artillerie in Zukunft auf Software- und KI-Unterstützung angewiesen sein, die zusammenwirken, um Hardware in schneller und effektiver Weise einzusetzen. Mobilität, Schnelligkeit und Präzision sind auch hier die Schlüssel zum Erfolg. Diese Software-Seite des Artilleriesystems erhält aufgrund der Erfahrungen der Ukraine einen enormen Schub.

Auf der Hardware-Seite werden die NATO-Streitkräfte in Zukunft viel mehr Präzisionsartillerie benötigen, sowohl auf Rädern als auch auf Ketten. Dies gilt für 155-mm-Artillerie und Raketenartillerie gleichermaßen. Die Integration von Drohnen zur Zielerfassung und Feuerführung wird für die NATO-Streitkräfte in Zukunft ebenso unverzichtbar sein wie in der Ukraine. Darüber hinaus besteht ein Bedarf an Investitionen in bessere Counter Battery Fähigkeiten und die Integration dieser Fähigkeiten in die Artillerie-Kill-Chain sowohl in Software und Hardware.

Das Ausbildungs- und Übungsregime für Artillerietruppen muss auf den Erfahrungen in der Ukraine basieren und darauf ausgerichtet sein, eine möglichst hohe Geschwindigkeit der Kill-Chain, eine hohe Mobilität und maximale Präzision zu erreichen. Dies stellt große Anforderungen an das Personal und erfordert ein hohes Maß an intensivem Training. Die NATO-Streitkräfte werden große Lagerkapazitäten für Artilleriemunition und Treibladungen aufbauen müssen. In diesem Zusammenhang wird auch eine neuartige Munitionslogistik benötigt. Der Transport von Artilleriemunition wird in Zukunft eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Kriegsführung mit Artillerie sein. Munitionslogistik sollte vorzugsweise auf Standardcontainern und -paletten basieren, einfach per Luft, Schiff, Schiene oder Straße transportiert werden können und mit Ausdifferenzierungen für eine schnelle Verteilung und Vorpositionierung in Einsatzgebieten ausgestattet sein.

9 Komplexe Logistik und belastbare Eisenbahn

„Russland schoss heute mehr als 60 Marschflugkörper und mehr als 20 Drohnen auf die Ukraine ab, auch auf Strukturen des Eisenbahnnetzes. Leider hatte der Zug nach Charkiw heute deswegen zehn Minuten Verspätung." So oder ähnlich äußert sich während des Kriegs oft der Chef der Ukrainischen Eisenbahn. Die Resilienz der ukrainischen Bahnen ist schlicht beeindruckend. Was in der Öffentlichkeit, abgesehen von Personenzügen, kaum zu sehen ist, betrifft die Frage, inwiefern die ukrainischen Eisenbahnen auch ein wichtiges Rückgrat für die militärische Logistik der ukrainischen Streitkräfte darstellen. Die ukrainische Militärlogistik wird jedoch bewusst aus der Öffentlichkeit herausgehalten.

Die Aufgabe, eine große Anzahl von Truppen an sehr langen Frontlinien zu versorgen und zu reparieren, ist komplex. Hinzu kommen die immer komplexer werdende logistische Betreuung einer sehr großen Anzahl von Fahrzeugen und Waffensystemen, die umfangreiche Munitionslogistik über sehr große Entfernungen sowie das Management des Transportbedarfs für die Lieferung neuer Waffensysteme von Partnern sowie die Wartung und Reparatur von Waffensystemen außerhalb der ukrainischen Grenzen. Die komplexe Logistik der ukrainischen Streitkräfte ist eine wahre Herkulesaufgabe.

Bereits direkt nach Beginn der russischen Angriffe stellten die ukrainischen Streitkräfte auf Kriegslogistik um. Das heißt auch, dass der große staatliche Sektor der ukrainischen Eisenbahnen und die großen Fahrzeugflotten der staatlichen Unternehmen und großer ukrainischer Unternehmen direkt zur Unterstützung der militärischen Logistik akquiriert wurden. Dadurch wurde das Potenzial der Streitkräfte enorm erhöht.

Wesentliche Teile der Logistik bleiben jedoch bewusst dezentralisiert und im Gegensatz zur postsowjetischen Tradition wird bewusst auf einen rigiden Zentralismus verzichtet. Regionale Zuständigkeiten in den Oblasten für den Zivilschutz und die Unterstützung der militärischen Logistik helfen bei der schnellen Versorgung und ermöglichen die Integration des enormen Umfangs an zivilgesellschaftlicher Hilfe und Aktivitäten zur Unterstützung und Versorgung der Streitkräfte. Das System der ukrainischen Militärlogistik atmet.

Die Streitkräfte der Ukraine kommen aus einer Tradition der Verladung und des Transports mit der Eisenbahn. Verladeoperationen unter operativen Bedingungen und bei Nacht sind normaler Standard, die dafür notwendigen technischen Einrichtungen sind vorhanden, oft mit zwar veralteten, aber dafür robusten Rückfallsystemen. Große Bestände an Lokomotiven, Eisenbahnwagen, Transportwagen für Treibstoffe, Munition und Material sind vorhanden. Alte Waggons wurden nicht verschrottet, sondern gelagert und können aufgrund ihrer simplen und robusten Bauweise relativ leicht wieder in Betrieb genommen werden. Fahren die Elektroloks nicht, werden Dieselloks eingesetzt. Würden auch die Dieselloks nicht mehr fahren, könnte man sogar notfalls Dampfloks wieder in Betrieb nehmen. Mit anderen Worten: Redundanz- und Fallback-Optionen dienen der Stabilisierung der Kriegslogistik in der Ukraine.

Das ukrainische Schienennetz wurde, wie auch das Stromnetz, in sowjetischer Tradition bewusst auf Redundanz ausgelegt. Davon profitieren heute die ukrainischen Streitkräfte. Selbst wenn wichtige Knotenpunkte zerstört werden, gibt es immer Möglichkeiten für alternative Routen und Umgehungen, ohne den Zugbetrieb zum Erliegen zu bringen. Die sensible Lieferung wichtiger Waffen, Munition und Ausrüstung kann aus Sicherheitsgründen aufgeteilt und getrennt auf indirekten Wegen zu Übungsplätzen, Bereitstellungsplätzen und an die Front organisiert werden. Um dies zu erreichen, kombiniert die Ukraine die Low-Tech des redundanten Schienennetzes und älterer, robuster Lokomotiven und Waggons mit der Hightech softwareoptimierter Routen und positions- und softwarebasierter Live-Überwachung von Transporten. Gerade die Kombination von Low-Tech- und High-Tech-Fähigkeiten hat sich in der Logistik, wie auch in anderen militärischen Bereichen, als besonders effektiv erwiesen.

Graph: Ukrainischer Militärtransport per Schiene

Die schienengebundene Militärlogistik der Ukraine profitiert auch von der Stahl- und Metallindustrie des Landes – diese produziert weitgehend Schienen und Weichen im Inland und große dezentrale Bestände an Ersatzteilen, Spezialkomponenten und Werkzeugen. Ausbesserungen, Reparaturen oder auch die Verlegung von Gleisen und Weichen lassen sich überall und jederzeit schnell durchführen. Es ist wohl nicht übertrieben, schlicht und einfach festzuhalten, dass heute keiner der europäischen NATO-Staaten zu militärlogistischen Leistungen wie die Ukraine überhaupt in der Lage wäre. Was es in NATO-Staaten weitgehend nicht mehr gibt, als Lehre aus der erfolgreichen ukrainischen Verteidigung gegen den russischen Überfall aber wieder aufgebaut werden muss, sind bewusst angelegte Redundanzen und Vorräte. Verteidigungsfähigkeit und Durchhaltefähigkeit der Logistik sind nur mit vielen Redundanzen und großen Vorräten möglich. „Just in time" ist schlicht nicht verteidigungsfähig.

Der Blick auf die Ukraine, in der zeitgleich zur militärischen Logistik auf Schienen und Straßen millionenfache Fluchtbewegungen von Zivilisten stattfanden, macht auch deutlich, dass das resiliente Management und die widerstandsfähige Aufrechterhaltung von zivilem Personentransport auf Straßen und Schienen überhaupt erst den Raum für funktionierende militärische Logistik bei der Landesverteidigung schaffen. Es ist schlicht völlig illusorisch zu denken, man könne den zivilen Verkehr stoppen und nur dem Militär den Vorrang geben. Richtig ist vielmehr, dass man die Fähigkeit braucht, den zivilen Verkehr auch unter den Extrembedingungen eines Angriffskrieges zu bewältigen und gleichzeitig die militärische Logistik sicherzustellen. Das ist eine Aufgabe für die zivil-militärische Kooperation und erfordert enorme gesamtstaatliche Vorbereitungen. Gleichzeitig macht das erhebliche Redundanzen und Krisenfähigkeit bei kommerziellen Transportunternehmen notwendig, die im Rahmen einer staatlichen Daseinsvorsorge finanziert werden müssen. Dabei sind auch die enormen notwendigen Reserven beim Personal und der Ausbildung des Personals zum Führen der unterschiedlichen Fahrzeuge und Geräte für Verladen, Transport, Betankung usw. zu bedenken. Hier erwachsen politische Aufgaben für die Schaffung der notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen und für die erheblichen Finanzierungsbedarfe.

Militärische Logistik im Kriegsfall ist zu einem hohen Anteil eine Nachtoperation. Die Streitkräfte der NATO-Staaten brauchen umfassende Fähigkeiten für Verladen und Transport bei Nacht und die generellen Fähigkeiten zum Betrieb der Logistik auf Schiene und Straße rund um die Uhr. Gerade die Nachtoperationen der Logistik, die Kriegslogistik insgesamt und die zivil-militärischen Kooperationen müssen intensiv, umfangreich und unter möglichst realen Bedingungen in großem Stil geübt werden. Es ist eine alte Weisheit, dass Schlachten, Feldzüge und ganze Kriege durch Logistik gewonnen oder verloren werden. Die aus den Erfahrungen der Ukraine gezogene Aufgabe, die militärische Logistik der NATO-Staaten zu verbessern, gehört sicherlich zu den wichtigsten und größten Herausforderungen für eine nachhaltige Sicherheit in Europa.

10 Operative Sicherheit, Geheimhaltung und Täuschung

Anfang September 2022 blickten Ukrainer, Russen und alle Beobachter des Krieges geschlossen auf Cherson und das Umland auf dem südwestlichen Ufer des Dnipro. Die Ukraine hatte im August dort eine Gegenoffensive gestartet, den ersten größeren Gegenstoß seit der Abwehr der Russen im Norden Kyjiws. Dann überschlagen sich die Nachrichten plötzlich. Völlig überraschend stoßen ukrainische mechanisierte Verbände im Nordosten der Front durch die russischen Linien, lösen dort Chaos aus und gelangen bis nach Kupjansk. Die Russen sind gezwungen, das nach monatelangen Kämpfen eroberte, strategisch sehr wichtige Isjum aufzugeben. Die Ukraine befreit alle Gebiete in dem Oblast Charkiw und Teile der Oblast Luhansk. Die Vorbereitungen dieser Operationen hatte die Ukraine erfolgreich geheim gehalten und sie hatte die Russen, die professionellen Kriegsbeobachter und die breite Öffentlichkeit erfolgreich getäuscht. Wie war das möglich?

Täuschung ist außerordentlich schwierig. Die Ukraine war in diesem Fall aufgrund des sehr tiefen und detaillierten Wissens erfolgreich, das die Ukrainer über ihren russischen Gegner besitzen. Sie sprechen die Sprache der anderen Seite und kennen die Strukturen der gegnerischen Kräfte sehr gut. Auch Faktoren der russischen Führungskultur und des russischen Meldewesens bezogen die Ukrainer gezielt ein. Sie kannten die russischen Sensoren, wussten, worauf die Russen achten, und bezogen das in ihr Täuschungsmanöver ein. An einer Stelle der Front transportierten die Ukraine vor dem Angriff in Richtung Kupjansk sogar im großen Stil eigene Soldaten auf Tragen und in Krankenwagen, um die russische Aufklärung über Zahlen von Toten und Verletzten und damit über wahre Truppenstärken zu täuschen. Das war nur möglich, weil die Ukraine zu diesem Zeitpunkt genau wusste, wie und wo sie von den Russen beobachtet wird. Mit sehr tiefgehendem Wissen über den Gegner, seiner inneren Strukturen und Psychologie und unter Ausnutzung der Schwächen im russischen System wurde die große Täuschung angelegt.

Eine Grundvoraussetzung für das Gelingen solcher Täuschungsmanöver und ein wichtiger Faktor für die Erfolge der ukrainischen Verteidigung ist dabei die operative Sicherheit. Die Ukraine hat hier 2014 sehr schmerzvolle Erfahrungen gemacht. Viele Tote und Verletzte gab es im Donbass 2014 und danach aufgrund der Nutzung von Mobiltelefonen, die von der anderen Seite geortet und für die Zielerfassung genutzt worden. Aus diesen brutalen Erfahrungen hat die Ukraine gelernt und war beim russischen Angriff 2022 besser gewappnet und trainiert.

Obwohl Mobiltelefone und andere elektronische Geräte in den ukrainischen Streitkräften nicht verboten sind, sind die Soldaten im sicheren Umgang mit ihnen gut geschult. Seit 2014 wird der Umgang mit diesen Geräten mit absoluter Ernsthaftigkeit, Präzision und Disziplin umgesetzt. Jedem ist bewusst, dass es hier keine Toleranz für Fehler gibt. Die Erfahrung des Jahres 2014 hat diese Lektion auf die harte Tour gelehrt. Gerade in der Anfangsphase der ukrainischen Abwehr des russischen Angriffs machte die operative Sicherheit einen entscheidenden Unterschied. Russische Truppen waren oft an den Mobiltelefonen zu erkennen, die sie bei sich trugen und häufig sogar eingeschaltet waren. Darüber hinaus kommunizierten sie oft über offene Leitungen oder unverschlüsselten Funk. Konzentrationen von Mobiltelefonen und einzelnen Geräten konnten von der Ukraine beobachtet, geortet und für Angriffe verwendet werden. Darüber hinaus setzte die Ukraine schnell interne Regeln durch, die vorschreiben, dass Fotos und Videos von russischen Angriffen, Artillerie- und Raketenangriffen auf Telegram-Kanälen die genauen Orte der Einschläge verpixeln müssen.

Das Bewusstsein für operative Sicherheit wurde nicht nur bei der Truppe, sondern auch in der Zivilbevölkerung gefördert. Das Thema wurde wiederholt über Fernsehen und Telegram-Kanäle aufgegriffen. Die ukrainische operative Sicherheit hat in der breiten Öffentlichkeit eine bewusste und unterstützende Kultur entwickelt. Nachdem ein Bericht eines ukrainischen Fernsehsenders zur Geolokalisierung einer ukrainischen Waffenfabrik führte, die anschließend von Russland mit Raketen angegriffen wurde, entschied der Nationale Sicherheitsrat, dass nur ein einheitliches Fernsehprogramm ausgestrahlt werden kann, bei dem die Streitkräfte die Kontrolle über solche Bilder behalten und die operative Sicherheit gewährleisten. Dieser Schritt blieb nicht ohne Kritik, hat aber zu einer besseren Betriebssicherheit beigetragen. Mögliche Lehren für die Streitkräfte innerhalb der NATO liegen einerseits auf der Hand und sind andererseits nicht ganz einfach umzusetzen.

Die konkreten Erfahrungen der Ukraine zeigen, dass umfangreiche Übungen, die unter voller operativer Sicherheit durchgeführt werden, absolut notwendig sind. Operative Sicherheit muss streng intern durchgesetzt werden und bedarf einer fast drillartigen Schulung, da keine Fehler toleriert werden können. In einer Zeit, in der Mobiltelefone und elektronische Geräte immer verfügbar sind, bleibt das eine große Herausforderung. Auch die gezielte Täuschung eines Gegners erfordert viel Übung und strenge Disziplin. Es erfordert vor allem eine genaue Kenntnis und ständige Aktualisierung der Informationen über die Sensorik des Gegners. Dafür braucht es eigene Fähigkeiten.

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sind von spezieller Natur, bis hin zum Verständnis der jeweiligen Sprachen. Folglich lassen sich die Erfahrungen nicht ohne weiteres abstrahieren und auf andere Konflikte übertragen. Dennoch zeigt sich, dass Täuschungsmanöver nur dann gelingen, wenn eine Seite über ein intensives, tiefes Wissen über den Gegner verfügt. Dazu gehören fundierte regionale Expertise, die Beherrschung der Sprache der anderen Seite, psychologische Kenntnisse und ein breites Bewusstsein für die Organisations- und Führungskulturen der gegnerischen Kräfte. Dieses Wissen gilt es systematisch und langfristig aufzubauen und zu pflegen und geht weit über die Beobachtung des feindlichen Potenzials und der Truppenbewegungen hinaus.

Operative Sicherheit und Geheimhaltung sind Erfolgsfaktoren für die Verteidigung. Doch sie bergen auch Konflikte für die innere Organisation und die Prozesse innerhalb der Streitkräfte. Operative Sicherheit und Geheimhaltung fordern möglichst wenig Einbeziehung bei Entscheidungsvorbereitungen und Entscheidungen. Das steht in einem Spannungsverhältnis zu vielen militärbürokratischen Prozessen, die auf breite Beteiligung und Abstimmung innerhalb der bürokratischen Apparate, häufige Mitzeichnungen und möglichst breite Einbeziehung setzen. Diese Prozesse bedürfen vor dem Hintergrund der Sicherheitsanforderungen in realen Konflikten einer kritischen Überprüfung. Das gilt auch für allgemeine E-Mail-Postfächer von Organisationseinheiten, geteilte Dokumente und die interne Informationskultur. Dazu gehört auch die Notwendigkeit, den menschlichen Hunger nach Informationen und Gerüchten in den Griff zu bekommen, der großen Militärbürokratien und Truppenverbänden innewohnt.

Operative Sicherheit, Geheimhaltung und Täuschungsfähigkeiten stehen auch im Widerspruch zu den hohen Anforderungen an die parlamentarische und öffentliche Kontrolle der Streitkräfte, die in vielen NATO-Staaten üblich sind. Auch wenn es nicht möglich sein wird, diese Widersprüche vollständig zu lösen, ist es dennoch notwendig, sie angesichts der ukrainischen Erfahrungen anzugehen. Auch wenn es nicht gelingen wird, diese Widersprüche vollständig aufzulösen, ist es vor dem Hintergrund der ukrainischen Erfahrungen dennoch notwendig, sie zu thematisieren. Demokratische Prinzipien, parlamentarische Kontrolle und freie Medienberichterstattung sind auch im Krieg wichtig, doch gleichzeitig sind Fragen der operativen Sicherheit und der Geheimhaltung oft Fragen von Leben und Tod, die auf den Ausgang von Schlachten und den Verlauf von Kriegen absolut entscheidenden Einfluss haben können. Es muss ein neues Gleichgewicht gefunden werden, das eine Verschärfung von Sicherheit und Geheimhaltung ermöglicht.

11 Mit Narrativen gewinnen

„Der Frühling wird kommen." Zu dieser Melodie kommt eine Soldatin der ukrainischen Kampftruppen zum Fronturlaub nach Hause. Ihre kleine Tochter, die sie seit Monaten nicht gesehen hat, rennt ihr in Gummistiefeln entgegen, so schnell sie kann. Der Familienhund wedelt irgendwo dazwischen freudig aufgeregt mit dem Schwanz – dann liegen sich alle in den Armen. Wie zufällig wurde die Szene mit einem Handy gefilmt und landete in Telegram-Channels, auf TikTok, Instagram, Twitter, Facebook, Internetseiten von Nachrichtenkanälen. Wie davor und danach hunderte, wenn nicht tausende ähnlicher Videos. Wie auch die Videos mit den Reden des ukrainischen Präsidenten, wie Videos und Memes mit ironischen, kämpferischen, lustigen, traurigen, beängstigenden und wütend machenden Motiven. Es besteht kein Zweifel: Die Ukraine dominiert den Krieg in der strategischen Kommunikation.

Die ukrainische strategische Kommunikation ist schnell, kreativ und geschickt, sie erreicht ihr Publikum zu jeder Tages- und Nachtzeit, sie ist konsequent auf unterschiedliche Zielgruppen rund um den Globus ausgerichtet. Die Ukraine setzt in der strategischen Kommunikation in einem Krieg gerade völlig neue Standards. Möglich wurde dieser Erfolg unter anderem durch starke Kommunikatoren und Verstärker. Es beginnt an der Spitze mit dem Präsidenten, der seit Beginn des Krieges täglich über Selfie-Videos informiert, die auf Ukrainisch, Englisch und manchmal Russisch ausgestrahlt werden. Im Laufe des Krieges hat Selenskyj immer wieder starke, historische Reden gehalten – vom kraftvollen einfachen „Ya tut" („Ich bin hier") in den ersten Tagen in Kyjiw über das feurige „Ohne Wasser, ohne Strom, ohne Heizung, ohne Nahrung – aber ohne euch!" nach den russischen Marschflugkörperangriffen auf ukrainische Infrastruktur bis hin zu einer zutiefst bewegenden Neujahrsansprache, in der er sich nur ein einziges Mal erwähnte.

Graph: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer Video-Ansprache im April 2022

Aber hinter dem Präsidenten kommunizieren auch viele andere Führer in der Ukraine authentisch und regelmäßig: der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der Bürgermeister von Kyjiw und andere Bürgermeister von Großstädten, Gouverneure, Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Botschafter, Vertreter der Zivilgesellschaft. Sie sind fast immer sichtbar, authentisch und klar und auf das Greifbare fokussiert. Sie melden sich regelmäßig zu Wort, formulieren Themen frühzeitig, ordnen Ereignisse ein, geben Informationen und Orientierung und geben den Ton in vielen internationalen Debatten vor und beeinflussen ihn.

Strategische Kommunikation ist ein interessantes Phänomen. Jeder weiß im Prinzip, wie es geht – die Leitformeln sind klar und oft vorgeschrieben. Oft wird sogar so getan, als sei es eine recht einfache Kunst, obwohl sie selten richtig gelingt. Die Ukraine wendet die gleichen Regeln für eine erfolgreiche strategische Kommunikation an, die allen bekannt sind, aber sie hat es während des gesamten Krieges vorbildlich getan. Alles beginnt mit Regelmäßigkeit und Routinen: Der Präsident zum Beispiel nimmt jeden Abend eine Erklärung auf und der ukrainische Generalstab gibt jeden Tag ein schriftliches Briefing. Alle offiziellen Informationen werden sofort auf verschiedenen Kanälen ausgespielt: Telegram, TV, Pressemitteilungen, TikTok, Instagram, Twitter, Facebook, sogar LinkedIn. Jeder weiß, dass es so gemacht werden sollte – aber die Ukraine tut es jeden Tag diszipliniert und konsequent. Das ist das Erfolgsgeheimnis.

Auf diese Weise haben die ukrainischen Kommunikatorinnen und Kommunikatoren gezeigt, dass sie den Nachrichtenzyklus in der Ukraine und in den wichtigsten Partnerländern perfekt verstehen und sich bei Bedarf anpassen können. Die abendlichen Reden des Präsidenten geben den Ton für den kommenden Tag an. In Europa ist es besser, früh mit Botschaften zu sein, um den Ton für den Nachrichtentag anzugeben; in den USA muss es Primetime sein.

Gleichzeitig richtet insbesondere der Präsident seine Kommunikation konsequent auf unterschiedliche Zielgruppen aus. Er redet mit den G7 anders als mit afrikanischen Gesprächspartnern und mit dem Bundestag anders als in der Knesset oder im US-Kongress. Selenskyj bezieht in seinen Reden stets historische und kulturelle Bezüge, Begebenheiten und Zitate ein, die den Zielgruppen vertraut sind. Regelmäßigkeit, simultane Multi-Channel-Ausspielung, Anpassung an die Zielgruppen, Einblendung in die Einstiegspunkte des Nachrichtenzyklus – die Kommunikation des ukrainischen Präsidenten wird wohl schnell Eingang in Lehrbücher der strategischen politischen Kommunikation finden.

Dies gilt auch für die strategische Kommunikation der Streitkräfte der Ukraine und der Regierung im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg und die ukrainische Verteidigung im engeren Sinne. Das ukrainische Militär produziert regelmäßig qualitativ hochwertige Inhalte und nutzt ein vernetztes globales Netzwerk von Verstärkern und Kommunikatoren in einer Art „kontrollierter Anarchie" zur Verbreitung mit enormer Reichweite. Dabei kooperieren die Streitkräfte der Ukraine insbesondere mit Journalisten, Experten und der globalen Open-Source-Intelligence Community. Sie wurden sogar selbst Teil dieser Gemeinschaften. Eine Auseinandersetzung mit den vielen sehr erfolgreichen inhaltlichen Motiven der strategischen Kommunikation der Streitkräfte der Ukraine würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Es gibt jedoch einige herausragende Beispiele, die repräsentativ für das System als Ganzes sind.

Fast unmittelbar nach dem russischen Angriff, als Tausende Ukrainer als Freiwillige Schlange standen, um sich den Streitkräften anzuschließen, verbreitete sich ein Video des bekannten Sängers BoomBox rasant. Frisch gekleidet in Uniform sang er auf dem Sofia-Platz in Kyjiw mit großer Emotion das ukrainische patriotische Volkslied „Oi, u luzi chervona kalyna" a cappella und drückte damit die Gemütsverfassung von Millionen Ukrainern aus: Wir werden bleiben, wir werden uns freiwillig für die Truppen melden, wir werden kämpfen. Durch die Verbreitung auf Telegram-Kanälen (den wichtigsten Nachrichtenquellen für schnelle und zuverlässige Informationen über den Krieg) wurde das Video in den ersten Kriegstagen vom ganzen Land angesehen. „Oi, u luzi chervona kalyna" wurde schnell zum Soundtrack der ukrainischen Selbstbehauptung – es wurde in unzähligen Versionen immer wieder gesungen, neu aufgenommen und verbreitet: von Truppen an der Front, Chören verschiedener Truppengattungen, Menschen in U-Bahn-Stationen während russischer Luftangriffe, kleinen Kindern, Opernsängern, estnischen Freunden der Ukraine und vielen mehr.

Fast ebenso bekannt ist das düstere Elektrostück mit der Zeile „Dobroho vechera, my s Ukrainy." Es wird als Hintergrundmusik für zahlreiche Videos verwendet, die Bilder vom Einsatz der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Eindringlinge zeigen. Diese Videos vermitteln eine harte und klare militärische Botschaft: Wer auch immer uns angreift und unseren ukrainischen Boden betritt, um ihn uns wegzunehmen, dem wird es schlecht ergehen. Videos der Zerstörung russischer Fahrzeugkolonnen, Panzer und Gefechtsstände durch Drohnenangriffe auf russische Militärausrüstung und dem Einschlag ukrainischer Artillerie auf feindliche Stellungen entsprechen sicherlich nicht den Standards der politischen Korrektheit in Friedenszeiten und könnten ethische Fragen aufwerfen. Aber in Kombination mit „Guten Abend, wir sind aus der Ukraine" vermitteln sie den Soldaten ihre Stärke und ihren Zusammenhalt und die gesellschaftliche Unterstützung, die hinter ihnen steht. Sie verbinden die Streitkräfte und die Gesellschaft in der grimmigen Stimmung, die für eine erfolgreiche Landesverteidigung notwendig ist. Es wäre ein Fehler, vor derartiger strategischer Kommunikation zurückzuschrecken.

Die Streitkräfte der Ukraine kommunizieren abseits von Inhalten mit Gefechtsszenen immer wieder vor allem mit zwei starken und emotionalen Leitmotiven. Zum einen erscheinen immer wieder neue Videos und kleine Geschichten von Soldaten an der Front mit ihren Haustieren – Hunde, Katzen, Mäuse, manchmal auch exotische Lebewesen. Das schafft Augenblicke der Menschlichkeit und der Nähe in einem grausamen Krieg, das stützt das positive Image der die Heimat verteidigenden ukrainischen Soldaten. Gleichzeitig sind diese Videos nach objektiven Standards der Kommunikation auf Social-Media-Plattformen und Messenger-Diensten wirklich leicht und unterhaltsam, immer authentisch und regen daher zum Teilen an. Die Videos wirken nicht angestrengt, sie „riechen" nicht nach steifer Regierungskommunikation oder zu bemühter strategischer Kommunikation. Das gilt auch für die weit verbreiteten „irren Tänze" ukrainischer Soldaten. Und das gilt erst recht für die oben beschriebenen Familienszenen von Abschieden und Wiedersehen, die mit dem Lied „Bude vesna" („Der Frühling wird kommen") verbunden sind. Es sind echte Familien, echte Kämpfer, echte Kinder, echte Menschen und echte Haustiere. Es sind die authentischen Botschaften einer authentischen Verteidigung gegen einen brutalen Überfall, die den Kern der strategischen Kommunikation der Streitkräfte bilden. Musik, Tiere, Kinder, Familien und das gesamte Register der Emotionen von Freude, Trauer, Angst, Wut, Schreck und Erleichterung sind dabei die bekannten Erfolgsrezepte der Unterhaltungsindustrie, die die Streitkräfte der Ukraine in der strategischen Kommunikation überaus geschickt anwenden und handwerklich professionell umsetzen.

Für die Ukraine ist Kommunikation Teil des Krieges. Strategische Kommunikation ist daher Sache der obersten Führung, angefangen beim Präsidenten. In den Streitkräften der Ukraine ist ein stellvertretender Minister für strategische Kommunikation für diesen Bereich zuständig, was seine Bedeutung unterstreicht. Die bahnbrechende strategische Kommunikation der Ukraine in diesem Krieg muss zu einer vollständigen Neuausrichtung der Fähigkeiten der Streitkräfte der NATO-Länder in dieser Hinsicht führen. Das erfordert brutale Ehrlichkeit in der Analyse: Die strategische Kommunikation der Streitkräfte innerhalb der NATO ist weit davon entfernt, auch nur annähernd so erfolgreich kommunizieren zu können wie die Ukraine, sowohl inhaltlich als auch strukturell. Radikale Transformationen und Verbesserungen sind notwendig. Dazu gehört die Etablierung deutlich umfangreicherer Kommunikationsmöglichkeiten und die Generierung einer professionelleren Ausgabe von Inhalten auf allen denkbaren Kanälen. Die Streitkräfte in der NATO benötigen unbedingt wesentlich mehr Kapazitäten und Ressourcen zur Produktion von Medieninhalten, als sie heute haben.

Auch die Geschwindigkeit der strategischen Kommunikation in den Streitkräften innerhalb der NATO muss deutlich erhöht werden. Die Fähigkeit, das Narrativ zu formen und den Informationsraum offensiv zu gestalten, anstatt verspätet zu reagieren, ist für den Krieg absolut entscheidend. Hier ist ein radikales Umdenken erforderlich, um kurze und schnelle Entscheidungswege, viel Freiraum für Kommunikatoren und eine „kontrollierte Anarchie" von Reichweitenverstärkern auch in den NATO-Streitkräften zu ermöglichen.

Die NATO-Truppen brauchen dringend kreative Partner und die Hilfe professioneller Kreativer, die eingebettet in die Streitkräfte die strategische Kommunikation neu gestalten können. Sowohl die Versuche, die eigene strategische Kommunikation an Agenturen auszulagern, als auch die versuchte Nachahmung strategischer Kommunikationstechniken durch bürokratische Strukturen sind als Fehlschlag zu betrachten. Angesichts des erreichten Niveaus in der Ukraine braucht es nicht weniger als einen radikalen Neuanfang in der strategischen Kommunikation der NATO-Streitkräfte.

Strategische Kommunikation ist ein integraler Bestandteil der Kriegsführung, die direkt an der Spitze der politischen und militärischen Ränge aller Streitkräfte durchgeführt werden muss. Ein stellvertretender Verteidigungsminister, der sich hauptamtlich der strategischen Kommunikation widmet und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet ist, wie in der Ukraine, wäre ein bahnbrechender und umsichtiger Schritt. Strategische Kommunikation ist heute ein zwingender Bestandteil der zu lösenden militärischen Aufgaben. Nur wer das begreift und umsetzt, wird jetzt und künftig überhaupt noch militärischen Erfolg haben können.

12 Fazit

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht weiter. Die Offensive der Ukraine vom Sommer 2023 konnte zuletzt nur Teilerfolge erreichen und der Ausgang des Krieges bleibt offen. Die Ukraine hat weiterhin die Chance Russlands Aggression zurückzuweisen und die besetzten Gebiete wiederzugewinnen. Dies setzt voraus, dass die westliche Unterstützung, insbesondere die der USA, weiter verfügbar bleibt. Es ist zudem notwendig, Qualität und Quantität der Unterstützung auszuweiten, da nur so ein Nachgeben Russlands erwartet werden kann. Unabhängig vom weiteren Verlauf dieses schrecklichen Krieges kann und müssen Streitkräfte in den NATO-Staaten viel von der Ukraine lernen. Wenn die westlichen Partner aus den von der Ukraine gemachten Erfahrungen systematisch Lehren ziehen, werden sie besser dazu in der Lage sein, sich gegen Aggressoren zu verteidigen und dadurch Aggressionen abzuschrecken.

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Zu den Erfolgen der ukrainischen Abwehr in der ersten Kriegsphase vgl. Fox 2022, Reisner/Hahn 2023,[24] 2023. [8] 2022, Chávez/Swed 2023, Jones/McCabe/Palme 2023,[9] 2023,[18] 2023a und 2023b, siehe auch den Beitrag von Markus Reisner in diesem Heft. Alex Horton/Serhii Korolchuk: In Ukraine, explosive DIY drones give an intimate view of killing,Washington Post, 4.10.2023, siehe auch Thomas Newdick: Ukraine Situation Report. First Person Video Drone Relentlessly Hunts Down a Russian Van,The Drive, 16.11.2023. Jones/McCabe/Palme 2023. [12] 2021. [4] 2023. Ti/Kinsey 2023. [26] 2022. Stuart A. Thompson/Davey Alba: Fact and Mythmaking Blend in Ukraine's Information War,New York Times, 3.3.2022. Philipp Belschner: „Oi u luzi chervona kalyna" – Ukrainischer Protestsong geht viral,Express (Wien), 19.4.2022. https://en.wikipedia.org/wiki/Good_Evening_(Where_Are_You_From%3F).

By Nico Lange

Reported by Author

Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz

Titel:
Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer.
Autor/in / Beteiligte Person: Lange, Nico
Link:
Zeitschrift: SIRIUS - Zeitschrift fur Strategische Analysen, Jg. 8 (2024-04-01), Heft 1, S. 16-38
Veröffentlichung: 2024
Medientyp: academicJournal
ISSN: 2510-263X (print)
DOI: 10.1515/sirius-2024-1003
Schlagwort:
  • artillery
  • data-based warfare
  • drones
  • infantry
  • logistics
  • military doctrine
  • Russia
  • Artillerie
  • datenbasierte Kampfführung
  • Drohnen
  • Infanterie
  • Logistik
  • Militärdoktrin
  • Russland
  • Ukraine Language of Keywords: English; German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Full Text Word Count: 14924

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