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Handlungsspielräume deutscher Sicherheitspolitik nach Russlands Angriff auf die Ukraine 2022.

Jäger, Thomas
In: SIRIUS - Zeitschrift fur Strategische Analysen, Jg. 8 (2024-06-01), Heft 2, S. 119-142
Online academicJournal

Handlungsspielräume deutscher Sicherheitspolitik nach Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 

Deutschland muss seinen außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum in einer gebrochen bipolaren internationalen Ordnung ausgestalten. Dabei gibt die EU den Rahmen ab, weil sie die europäische Staatenordnung prägt. Sie hebt das Bemühen der einzelnen Staaten aber nicht auf, denn sie garantiert keine Sicherheit. Russland entwickelt sich zur langfristigen Bedrohung, weil innere und äußere Entwicklungen gleichermaßen auf Gewalt gerichtet sind. Die USA kämpfen gleichzeitig in drei Regionen um die Stabilisierung der Ordnung: in Europa, im Pazifik und im Mittleren Osten. Europa hat dabei nicht viel zu bieten. Das amerikanische Interesse zu verhindern, dass China Eurasien beherrscht, ist die Chance von Deutschland und der EU, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand zu bewahren.

Germany must shape its room for manoeuvre in foreign and security policy in a fractured bipolar international order. In doing so, the EU provides some framework because it shapes the European state order. However, it does supersede defense policies of the individual states, because it does not guarantee security. Russia is becoming a long-term threat because internal and external developments are putting it on a track marked by violence. The U.S. is simultaneously fighting to stabilize order in three regions: Europe, the Pacific, and the Middle East. Europe doesn't have much to offer. The American interest in preventing China from dominating Eurasia is the opportunity for Germany and the EU to preserve democracy, security and prosperity.

Keywords: Deutsche Sicherheitspolitik; Zeitenwende; Russia; Russland; Europäische Union; USA; Bipolarität; Multipolarität; German security policy; European Union; bipolarity; multipolarity

1 Einleitung

Zu sagen, dass Deutschland schlecht auf die Veränderungen der geopolitischen und geoökonomischen Lage und ihre Folgen für Sicherheit und Wohlstand vorbereitet ist, wäre übertrieben. Deutschland ist gar nicht darauf vorbereitet. In einer Kombination aus Selbsttäuschung, Inkompetenz, Politik-Phantasien und einer Wagenburgmentalität hat sich das Land eingeigelt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen meinen die politischen Kräfte sich unter den Transformationen der internationalen Ordnung wegducken zu können. Sie spiegeln damit zum Teil die Wünsche der Gesellschaft wider, dass sich vieles ändern müsste, doch alles bitte so bleiben sollte, wie es ist. Es ist unnötig zu sagen, dass die Wirklichkeit diese Ignoranz hart bestrafen wird. Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Handlungsoptionen, und seien sie auch stark eingeschränkt, derzeit bestehen, um die Sicherheit und den Wohlstand Deutschlands in einer stabilen Europäischen Union (EU) zu bewahren, wenn sich die Verhältnisse um Europa in einer turbulenten Transformation befinden.

Der folgende Artikel listet Fehler bisheriger deutscher Politik auf und gibt einen Überblick über die wesentlichen Elemente des internationalen Strukturwandels, der sich vollzieht, ohne dass deutsche Politik daran Grundsätzliches ändern kann. Insbesondere wird Bezug darauf genommen, dass sich international ein Übergang zur gebrochenen Bipolarität vollzieht und dass die hauptsächliche Herausforderung deutscher wie europäischer Sicherheit darin besteht, ein faschistisch gewordenes Russland davon abzuhalten, die NATO und die EU zerstören zu wollen und eine Hegemonie über Europa zu etablieren. Angesagt ist eine gründliche Abwägung der strategischen Herausforderungen, Ziele und Handlungsstrategien deutscher wie europäischer Politik. Dabei ist zu fragen, welche Ziele und Optionen Deutschland realistisch zur Verfügung stehen.

2 Fehler deutscher und europäischer Sicherheitspolitik in der Vergangenheit

Sowohl die deutsche als auch die europäische Sicherheitspolitik haben in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fehlleistungen produziert, die die internationale Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sowie der Union beeinträchtigt haben. Diese zu benennen ist wichtig, um Handlungsspielräume in der heutigen Phase der Unsicherheit identifizieren und Chancen eines strukturellen Wandels einschätzen zu können. Teilweise werden diese Fehler im Zuge der Zeitenwende aufgehoben, aber insgesamt bleibt die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik ohne strategische Leitlinien.

2.1 Selbsttäuschungen deutscher Sicherheitspolitik

Als nach der Wiedervereinigung 1990 die neue deutsche Außenpolitik vermessen wurde, bewegte sich die Diskussion häufig zwischen den Begriffen der Machtbesessenheit und Machtvergessenheit. Nach dreißig Jahren kann grob bilanziert werden, dass Machtvergessenheit die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wirksam angeleitet hat. Das hat erst einmal weniger mit den vielfältigen Entwicklungen zu tun, die auf sie einwirkten: die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die Abwehr des islamistischen Terrors, die Herausforderungen durch die Kriege Russlands, von Moldau über Georgien bis zur Ukraine. Es hat weit mehr damit zu tun, dass die Bundesregierungen es unterlassen haben, realistische außen- und sicherheitspolitische Ziele und Interessen zu formulieren und die dazu notwendigen Instrumente zu organisieren und auch zu ertüchtigen. Nur Letztere hätten sie in die Lage versetzt, auf internationale Entwicklungen Einfluss nehmen zu können. Ohne diese Instrumente, militärische, ökonomische und kulturelle Macht, blieb auch der internationale diplomatische Einfluss marginal. Im Kielwasser und unter Führung der USA war die deutsche Diplomatie in Jugoslawien an solchen Prozessen ein wenig mitbeteiligt. Ähnliches gilt für die Bemühungen, in Afghanistan einen Wiederaufbau von Staat und Gesellschaft zu organisieren und gegen Gewaltakteure zu verteidigen. Mehr gibt es aus den zurückliegenden drei Jahrzehnten nicht vorzuweisen.

Ein paralleler Prozess war in der deutschen Politikwissenschaft zu beobachten, die die Außen- und Sicherheitspolitik vordachte und zur öffentlichen Diskussion beitrug. Diese konzentrierte sich weitgehend auf die durch die Theoriediskussion vorgegebene Möglichkeit, durch kollektive Sprechakte neue Realität zu schaffen. Dem entsprach normativ die kontinuierliche Reproduktion und Bewahrung der Idee, wonach Deutschland eine „Zivilmacht" sei. Nicht dass die deutsche Politikwissenschaft direkten Einfluss auf die Gestaltung der Politik gehabt hätte, aber über die Ausbildung an den Universitäten und insbesondere durch die daran ausgerichtete Gleichförmigkeit der Analysen in den öffentlich finanzierten Einrichtungen der Friedensforschung und selbst in den von der Bundesregierung unterhaltenen Think Tanks bekamen diese mentalen Leitplanken den Charakter grundlegender Überzeugungen im außen- und sicherheitspolitischen Denken Deutschlands. Das war ein weiterer Grund, warum es möglich war, sich in Selbsttäuschungen einzurichten, die bis heute fortdauern. Die beiden Grundgedanken, dass die internationale Politik durch soziale Konstruktion gestaltbar und Deutschland eine Zivilmacht ist, die in einem selbstgestalteten Umfeld tätig sein kann, prägen das Denken bis heute. Keine internationale Krise, kein Krieg, keine Verwerfung, haben es bislang grundlegend erschüttert.

Ein Beispiel: Die Konsequenzen aus der mangelhaften Ausstattung der Bundeswehr werden auch heute noch mit dem Hinweis abgeschwächt, dass ja die NATO die europäischen NATO-Staaten und mithin auch Deutschland verteidigen würde. Der Gedanke, dass die Bundeswehr diesen Kampfauftrag im Rahmen der NATO selbst zu leisten hat, ist vielen, teilweise auch Entscheidungsträgern, fremd. Die Bundeswehr ist in deren Augen eben eine zivilstaatliche Armee, weshalb sich die Bundesregierungen als Hauptbetätigungsfeld immer wieder das auch gar nicht unwichtige Sanitätswesen ausgesucht haben.

2.2 Die EU als globaler Akteur, der sich nicht verteidigen kann

In der EU spiegeln sich die deutschen Defizite. Dies ist wenig verwunderlich, denn aus Europa kommt der Gedanke der Zivilmacht. Diese sollte einen Gegensatz zu den hochgerüsteten Militärmächten USA und UdSSR (bzw. Russland) darstellen und durch die Außenpolitik der EU ihren weltpolitischen Ausdruck finden. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde diese Haltung speziell in Deutschland vorangetrieben, weil man sich angesichts des Kriegs der USA gegen den Irak in einer moralisch überlegenen Position wähnte. Das Scheitern der USA wurde als Bestätigung dafür angesehen, dass diese ein angeblich anachronistisches Machtverständnis habe und entsprechende Fehlleistungen produziere. Viele glaubten, dass der Abstieg der USA als Weltmacht konsequent sei und die EU ihren Platz als Zivilmacht einnehmen würde. China war noch nicht so weit entwickelt, Weltmacht werden zu können, Russland spielte mit der EU ein Annäherungsspiel, da schien der Weg für die erste zivile Weltmacht vorgezeichnet.

Dabei wurde übersehen, dass die EU der einzige politische Akteur ist, der den Anspruch auf globale Gestaltungsmacht erhebt, ohne sich selbst verteidigen und ohne Stabilität in sein geografisches Umfeld projizieren zu können. Schon mit den Kriegen im früheren Jugoslawien waren die EU-Staaten überfordert. Als der luxemburgische Minister Jacques Poos 1992 von der „Stunde Europas" sprach, meinte er, dass sich die europäischen Staaten durch die Kriege in Jugoslawien als handlungsfähige Staatengruppe konstituieren könnten. Doch es kam anders und letztlich war es dann doch wieder die Stunde der USA, ohne die und ohne deren Militärmacht die jugoslawischen Kriege nicht beendet werden konnten. Doch diese schizophrene Spannung, international gestalten zu wollen, ohne die Mittel zur Selbsterhaltung zu haben, hielt das politische Personal auch in Europa über zwei Jahrzehnte mental gut aus. Deshalb ist dies für die Frage nach der Zukunft bedeutsam: In dieses Denken wurden zwei Generationen von politischen Entscheidungsträgern in Deutschland wie in der EU sozialisiert. Es ist daher kein Wunder, dass sie sich nur schwer davon lösen können. Das wurde in Deutschland anhand der Debatte zur Zeitenwende deutlich, die wiederum aufwies, dass von vielen Amtsträgern nicht die inhaltliche Sachdiskussion plus Entscheidung und Umsetzung, sondern der Sprechakt weiterhin als Kern des Handelns angesehen wird.

2.3 Defizite der mentalen Zeitenwende in Deutschland

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wurde in Deutschland eine Diskussion begonnen die sich erstmals seit Jahrzehnten mit der Frage befasste: „In welchem Zustand ist eigentlich die Bundeswehr?" Der Inspekteur des Heeres hatte zu Beginn von Russlands Angriff im Februar 2022 davon gesprochen, dass die Bundeswehr blank sei. Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine wird der Zustand der Bundeswehr als noch blanker beschrieben. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es, die zugesagte Brigade, die in Litauen stationiert werden soll, personell und an Ausrüstung zusammen zu bekommen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) fasste die Aufgabe, die Bundeswehr personell zu verstärken und an Waffen und Munition auszurüsten, in dem Wort zusammen, die Bundeswehr müsse „kriegstüchtig" werden. Dem widersprach der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, indem er darauf hinwies, man möge doch von „Verteidigungsfähigkeit", aber nicht „Kriegstüchtigkeit" sprechen.

Graph: Boris Pistorius und Rolf Mützenich

Graph

Zwei Führungspersonen der Kanzlerpartei stritten sich auf offener Bühne, was man nun wie bezeichnen dürfe. Der Sprechakt und dessen Kritik waren zumindest einem der Kontrahenten wichtiger als reale Politik. Die konstruktivistische Sozialisierung brach durch, die Benennung sollte die Realität prägen. Wie unter einem Brennglas wurde dadurch die Uninformiertheit der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland aufgezeigt. Denn Pistorius hat mit seiner Formulierung, die Bundeswehr müsse kriegstüchtig werden, ja keinen Versuch unternommen, das Verbot eines Angriffskrieges aus dem Grundgesetz auszuhebeln, sondern er hat diesen Begriff der „Kriegstüchtigkeit" immer und nur auf die Fähigkeit zur Verteidigung des Landes gegen einen Angriff von außen gemünzt. Etwas anderes wird ihm Mützenich auch nicht unterstellt haben. Kriegstüchtigkeit und Verteidigungsfähigkeit sind aber nicht identisch. Denn zum Fähigkeitsspektrum der Kriegstüchtigkeit ist insbesondere auch die Fähigkeit zur Abschreckung zu zählen. Wer Kriege verhindern will, muss den Schwerpunkt der militärischen Fähigkeiten auf Abschreckung legen, die allerdings nur funktionieren kann, wenn sie glaubwürdig ist und entsprechend kommuniziert wird. Dazu gehört eben auch, dass der Gegenseite kommuniziert wird, dass man kriegstüchtig sei. Ein Mangel an Willen kann dazu führen, dass Abschreckung nicht mehr wirkt. Diese Frage wird später noch aufgeworfen werden, wenn es darum geht, ob die USA, insbesondere der amerikanische Präsident, bereit sind, für die Sicherheit Europas amerikanische Abschreckung anzudrohen. Wird dies nicht sicher und glaubwürdig kommuniziert, etwa als der ehemalige US-Präsident Donald Trump 2017 meinte, er würde die baltischen Staaten militärisch nur unterstützen, wenn sie alle amerikanischen Forderungen erfüllt hätten, oder wie er 2024 ausführte, er würde generell Staaten in Europa nicht schützen, wenn sie ihre Beiträge an die NATO nicht zahlten, könnte die Gegenseite, Russland, versucht sein, dies zu testen.

Im Übrigen gilt: Wo es an den entsprechenden Fähigkeiten zur Verteidigung mangelt, wird die Frage des Willens zweitrangig, denn wo keine Fähigkeiten vorhanden sind, lassen sie sich auch nicht aktivieren, kann mit ihnen also nicht gedroht werden. Die sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei, die Deutschland und viele andere europäische NATO-Staaten über drei Jahrzehnte pflegten, hat zu dem Ergebnis geführt, dass die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte nur völlig unzureichend ausgestattet sind. Bisher ist nicht zu erkennen, dass diese Einsicht als Grundlage der mentalen Zeitenwende in den Köpfen der verantwortlichen Amtsträger außerhalb von Nord- und Osteuropa angekommen ist. Auch zwei Jahre nach dem umfassenden Angriff Russlands auf die Ukraine sind nur wenige bedeutende Beschaffungsentscheidungen getroffen, geschweige denn umgesetzt worden. Viele Fähigkeitslücken bleiben für viele Jahre bestehen, bei manchen ist nicht erkennbar, dass sie wirklich geschlossen werden. Welche politischen Optionen Deutschland angesichts eines offensichtlich äußerst prekären sicherheitspolitischen Umfelds hat, hängt wesentlich davon ab, welche sicherheitspolitischen Entscheidungen heute getroffen werden. Derzeit schränkt der materielle Mangel an Fähigkeiten diese Optionen ein. Es fehlt an militärischem Gerät, an Waffen, Munition und den industriellen Produktionsstätten. Der mangelnde politische Wille, Abschreckung ausführen zu wollen, bleibt bestehen und weist auf einen eklatanten Mangel an strategischer Kultur hin.

Dass die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag im Februar 2022 in ihren Auswirkungen auf die Bundeswehr in der öffentlichen Diskussion auf die Beschaffung einiger Flugzeuge und Flugabwehrsysteme fokussiert wurde, verweist auf den Mangel an strategischem Denken im politischen Diskurs in Deutschland. Das ist auf der einen Seite nicht verwunderlich, weil solche Diskussionen jahrzehntelang schlicht nicht geführt wurden. Die sicherheitspolitische Meinungsbildung in Deutschland erfolgte eher in den Luftschlössern gruppendynamischer und sozialpsychologischer Mentalitäten. Dabei handelt es sich um Konzepte, die nicht für die Auseinandersetzung mit den harten Realitäten der internationalen Politik geeignet sind. Auch die gebetsmühlenartigen Wiederholungen von der „faktischen Kraft des Rechts" in den internationalen Beziehungen, der Durchschlagskraft multilateraler Abstimmungen und der durch die Globalisierung abgelösten „Haltungen des 19. Jahrhunderts" gehörten zu diesem Denken. Letzteres meinte, dass eine Politik der gegenseitigen, auch militärische Macht beachtenden Gegenmachtbildung nicht mehr „zeitgemäß" wäre. Typisch für dieses Denken war die Reaktion der deutschen Friedensforscher auf die russische Besetzung der Krim und die Anstiftung von Aufständen im Donbass im Jahr 2014. In dem Friedensgutachten von 2014 wurde vor dem „Wiederaufleben von Großmachtkonflikten" gewarnt, eine Warnung vor dem imperialen Gehabe Russlands suchte man vergebens.

Dieses vorherrschende, realitätsfremde Denken hinterließ seine Spuren. Im politischen Spitzenpersonal gab es so gut wie keine Verteidigungsexperten, selbst das weite Feld der Außen- und Sicherheitspolitik war nicht der internationalen Bedeutung Deutschlands entsprechend repräsentiert. In den Parteien war es lange Zeit der sichere Weg in die Karriere-Bedeutungslosigkeit, sich mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen zu profilieren. Selbst die EU-Politik, die ja zum täglichen Geschäft aller Ministerien gehört, wurde ohne jeden strategischen Anspruch ausgeführt. Welche internationale oder europäische Ordnung im deutschen Interesse angestrebt wurde, was also der Zweck des Handelns der Bundesregierung sein sollte, blieb weitgehend unbestimmt und war damit auch nicht kritisierbar. Ohne die Bestimmung von Zwecken kann Strategie aber nicht ausgebildet werden, denn es ist dann ja unbestimmt, worauf die handelnden Kräfte gerichtet werden sollen. Indem die Bundesregierungen den Zweck ihrer Außen- und Sicherheitspolitik nicht ernsthaft bestimmten, sondern Scheinzwecke in einer Wortwolke einschlägiger Selbsttäuschungen versteckten, blieben sie strategisch handlungsunfähig. Das ist bis heute im Wesentlichen so geblieben, wofür die immer wieder betonte Gewissheit, dass sich eine multipolare Ordnung ausbilde, als pars pro toto steht. Die Frage, wie sich die internationale Ordnung entwickelt, sollte allerdings grundlegend für die Bestimmung des eigenen Handlungsspielraums sein. Wer hier mit einem unrealistischen Szenario plant, kann seine Interessen nicht erkennen und durchsetzen. Deshalb ist es für die Ausmessung des eigenen Handlungsspielraums bedeutsam, die äußeren und weiter unten die inneren Restriktionen zu erfassen. Denn die Orientierung an unrealistischen Vorhaben führt im besten Fall in die Bedeutungslosigkeit, im schlechteren Fall in die Unterwerfung unter die Interessen anderer, ordnungsbestimmender Staaten.

3 Wie lassen sich die gegenwärtigen Veränderungen in der internationalen Politik charakterisi...

Die enge Orientierung des außenpolitischen Denkens in Deutschland und in der Folge dann auch der sicherheitspolitischen Planungen an internationalem Recht hängt mit der Konzentration des politischen Denkens auf den Staat und dessen Rolle als Regelsetzer und Überwacher zusammen. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass internationales Recht die Handlungsbreite aller (auch großer) Staaten beschränkt. Mit der Setzung internationalen Rechts und der Sozialisation anderer Staaten in diese Ordnung sollte, das war der Kernsatz deutscher Außenpolitik seit 1990, eine neue internationale Ordnung errichtet werden. „Die regelbasierte internationale Ordnung bildet einen Grundpfeiler deutscher Außenpolitik. Die Bundesrepublik Deutschland setzt sich daher weltweit dafür ein, das Völkerrecht und dessen Institutionen zu stärken und weiterzuentwickeln," heißt es programmatisch auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Auf die Entwicklungen von Globalisierung und Verrechtlichung nahm die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel Bezug, als sie am 13. März 2014 eine Regierungserklärung abgab: „Das [...] ist das Umfeld, in dem wir wie 2008 in Georgien und jetzt mitten in Europa, in der Ukraine, einen Konflikt um Einflusssphären und um Territorialansprüche erleben, wie wir ihn eigentlich aus dem 19. oder 20. Jahrhundert kennen, einen Konflikt, den wir für überwunden gehalten hatten. Dass er ganz offensichtlich nicht überwunden ist", begründete Merkel, ohne dass daraus irgendwelche Schlüsse für das Handeln der Bundesregierungen in den folgenden Jahren gezogen wurden. Die sozialisierte Orientierung ließ sich von realen Ereignissen nicht aus dem Gleichgewicht bringen.

Graph: Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2008

Diejenigen Staaten, die von den Vorstellungen einer aufgeklärten Kooperationspolitik des 21. Jahrhunderts abwichen, wurden als zurückgeblieben angesehen. Das galt für die Zeit nach 2001 vor allem für die USA, denen aus Deutschland die Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen als anachronistisch vorgehalten wurde. Europa sei „die einzige Alternative zum Weltordnungskonzept der gegenwärtigen amerikanischen Regierung." Eine solche Position könnten weder Russland noch China oder Indien einnehmen, „diese potentiellen Großmächte sind zu arm und zu machtlos." Die Vorstellung von der überlegenen zivilen, alternativen europäischen Weltordnungspolitik lebte weiter, selbst als der Aufstieg anderer Staaten zu beobachten war und sie wird in den Beschlüssen des Europäischen Rates noch heute beatmet.

Dabei war die Vorstellung einer weitgehend verregelten internationalen Ordnung nicht an die Grundverfassung der internationalen Beziehungen rückgekoppelt und deshalb politisch freischwebend, also ohne Bodenhaftung. Die Grundverfassung der internationalen Beziehungen besteht darin, dass diese anarchisch strukturiert sind. Es gibt keine zentrale norm- und regelsetzende Instanz, die den Norm- und Regelbruch feststellt, sanktioniert und die Ordnung danach wieder herstellt. Es gibt keinen Weltpolizisten, und Weltjustiz nur insoweit als sich die handlungsfähigen Staaten selbst an deren Urteile halten. Zwingen kann sie niemand. Diese Grundverfasstheit der internationalen Beziehungen muss bei jeder Überlegung über außen- und sicherheitspolitische Handlungsspielräume mitbedacht werden, denn aus ihr resultiert, dass die Staaten ihre Sicherheit, ihre Souveränität und auch ihr Überleben selbst bewerkstelligen müssen. Manche können dies aus eigener Kraft, andere suchen hierfür die kollektive Handlungsfähigkeit von Bündnissen. Und manchmal ergibt sich die Gelegenheit, dass eine Großmacht, wie in den vergangenen 70 Jahren die USA, eine liberale, regelbasierte internationale Ordnung in ihrem Einflussbereich und unter Nutzung ihrer Machtressourcen herstellt und dafür die Mitwirkung von Staaten gewinnt, die von dieser Ordnung profitieren. Eine Position, die jenseits der anarchischen Grundverfassung meint, über internationale Politik nachdenken und diese entsprechend ausrichten zu können, ist eine realitätsabgewandte Denkweise. Sie kann keine Wirkung auf die Realität beanspruchen. In Deutschland war und ist diese Einstellung zu beobachten. Das damit verbundene Risiko ist, dass diese Einstellung kläglich an den realen Verhältnissen scheitert. Die Diskussion um die weitere Entwicklung der internationalen Ordnung und ihrer Polarität verdeutlicht dies.

3.1 Internationale Ordnung und Multipolarität

Wer von falschen Voraussetzungen über die weitere Entwicklung der internationalen Ordnung ausgeht, kann keine realitätstüchtigen Konzepte zur Umsetzung der eigenen Interessenlage ausarbeiten. Sowohl in der EU als auch in Deutschland wird seit vielen Jahren davon gesprochen, dass sich eine multipolare Weltordnung ausbildet. Das ist eine ordnungspolitische Erwartung, die auf alle weiteren Vorgehensweisen und die Diskussion von Handlungsalternativen ausstrahlt. Dabei wird der Begriff ganz unterschiedlich verwendet. Drei Varianten dominieren die derzeitige Diskussion.

  • In der Wissenschaft beschreibt Multipolarität eine internationale Ordnung, in der drei oder mehr Staaten über eine herausragende Handlungsfähigkeit verfügen und alle anderen Staaten damit überragen. Ihre wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen, ihre militärische Handlungsfähigkeit und kulturelle Attraktivität übersteigen die Fähigkeiten anderer Staaten sehr deutlich. Häufig ziehen sie aufgrund dieser Fähigkeiten kleinere Staaten an, die Bündnisse mit ihnen eingehen. Es sind die Weltmächte, während andere Staaten Regional- und Mittelmächte oder Kleinstaaten sind.
  • China und Russland verwenden den Begriff Multipolarität in ihrer Diplomatie und den strategischen Schriften anders. Sie verstehen unter Multipolarität eine Ordnung, in der sich die kleineren Staaten in einer Region der jeweiligen Vormacht unterzuordnen haben. Der Begriff beschreibt also mehrere globale Räume, in denen Vormächte ihren Einflussbereich organisieren. Mehr noch: Sie haben das aus der Ordnung abgeleitete Recht dazu, Vorherrschaft auszuüben. Der Begriff ist in dieser zweiten Verwendung eine Camouflage für Einflusszonen und lehnt sich eng an eine Konzeption an, die Carl Schmitt zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entwickelte, wohl um die Eroberungspolitik Hitlers ideologisch zu untermauern.
  • In einer dritten Bedeutung benutzt die Bundesregierung den Begriff ganz anders. Sie versteht unter Multipolarität eine Ordnung, in der sich Staaten mit einem emanzipatorischen Anspruch aus eigenem Willen anderen Staaten nicht unterordnen wollen, sondern ihrer Stimme im Rahmen von Multilateralismus Gehör verschaffen. Multipolarität beschreibt in dem von der Bundesregierung 2024 verwendeten Sinn somit eine Welt, in der sich mehrere Staaten international Gehör verschaffen können. Die Bundesregierung reduziert diese Charakterisierung allerdings weitgehend auf den Sprechakt und dessen Unterstützung durch andere Regierungen. Unterbelichtet bleibt in diesem Verständnis von Multipolarität die Wirkung des Gesagten, d. h. ob aus der artikulierten Positionsbeschreibung auch eine reale Folgewirkung für die Beziehungen zwischen den Staaten oder in internationalen Organisationen folgt. Dabei wird kaum zwischen Multipolarität und Multilateralismus unterschieden. Die Bundesregierung nutzte das Label #MultilateralismMatters für die 2019 ausgerufene deutsch-französische Initiative einer Allianz für Multilateralismus. Auch wenn Multipolarität und Multilateralismus völlig unterschiedliche ordnungspolitische Konzepte sind, sie scheinen im außenpolitischen Denken der Bundesregierungen so eng verwoben zu sein, dass sie ineinander übergehen.

Was die Bundesregierung unter Multipolarität versteht, hat mit der Beschreibung einer multipolaren internationalen Ordnung im wissenschaftlichen Sinn nichts gemein. Es ist politisch gesehen nicht wichtig, ob man sich für seine unrealistischen Überlegungen Gehör und Zustimmung bei anderen Regierungen verschafft. Entscheidend ist, ob man sich durchsetzen kann. Wenn die Bundesregierung also die EU als einen Pol in der neuen internationalen Ordnung beschreibt, betreibt sie letztlich Selbsttäuschung. Denn die EU will zwar gehört werden und spricht entsprechend. Doch sie verfügt nicht über die herausragenden Fähigkeiten, die eine Weltmacht benötigt, um ihre Positionen auch durchzusetzen. Eine Fehleinschätzung hinsichtlich der weiteren Entwicklung der internationalen Ordnung kann sich somit als große Missachtung der Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit erweisen.

3.2 Was bedeutet Polarität?

Bevor diskutiert werden kann, welche Handlungsspielräume für Deutschland und die EU bestehen, ist es notwendig, die reale Entwicklung der Polarität in den internationalen Beziehungen zu analysieren. Sie weicht von der angenommenen Polarität in den EU- und bundesdeutschen Entscheidungsetagen fundamental ab. Die reale Entwicklung weist auf die Ausbildung einer doppelt gebrochenen bipolaren Ordnung hin. Die einzig vollausgebildete Weltmacht ist derzeit die USA (auf die innenpolitischen Restriktionen wird später eingegangen). Sie verfügen sowohl konventionell als auch nuklear über militärische Fähigkeiten der globalen Machtprojektion, besitzen die größte Volkswirtschaft und eine hohe zivilisatorische und kulturelle Anziehungskraft. Sie verfügen über ein weitverzweigtes Bündnissystem, das internationale Organisationen wie die NATO, multilaterale Formen wie AUKUS oder Quad und zahlreiche bilaterale Sicherheitsverträge umfasst. Der zweite Staat mit großen konventionellen, hingegen eingeschränkten nuklearen militärischen Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion ist China. Das Land verfügt über die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (nach Kaufkraft schon die größte) und übt auf autokratische Regierungen eine hohe Anziehungskraft aus. China verfügt nur eingeschränkt über Bündnispartner, am wichtigsten ist sein Bündnis mit Russland. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und noch weniger die BRICS+ taugen kaum als militärische Bündnisse, da in ihnen mehr und mehr Staaten teilnehmen, die untereinander große Interessenunterschiede aufweisen und keinesfalls die enge Anlehnung an China suchen. Beide Organisationen weisen weit geringere militärische Kooperation und wirtschaftliche Verflechtung auf als etwa die Bündnisse der USA. Hinzu kommen bilaterale Beziehungen im Rahmen der Neuen Seidenstraße (Belt-and-Road-Initiative). Belastet wird die chinesische Stellung durch die demografische Entwicklung, denn je nach Prognose wird die Bevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts von 1,4 Mrd. auf 700 bis 350 Mio. zurückgehen.

Die USA und China überragen die anderen Staaten hinsichtlich der kumulierten Fähigkeiten auch in der Prognose für die nächsten dreißig Jahre deutlich. Erst danach, also auf 2075 zugehend, wird Indien eine ebenso große Volkswirtschaft aufweisen wie die USA und China. Ob es Indien bis dahin auch gelingen wird, die entsprechenden militärischen Fähigkeiten auszubauen, wird zu beobachten sein. Demografisch stellt Indien in diesem Zeitraum eine Herausforderung für China dar.

Die übrigen Staaten treten dahinter zurück. Russland verfügt über die Fähigkeit zur globalen Machtprojektion mit nuklearen Mitteln, weist darüber hinaus aber keine wirklich weltmachtkonstituierenden Fähigkeiten auf. Mit der sich abzeichnenden Politik der Dekarbonisierung sinkt zudem die Bedeutung einiger russischer Bodenschätze. Anders als andere Staaten, Saudi-Arabien beispielsweise, hat Russland keine Strategie für eine post-fossile Wirtschaft entwickelt. Die EU verfügt über eine Volkswirtschaft, die zusammen mit der amerikanischen und chinesischen aktuell die übrigen Volkswirtschaften überragt, ist darüber hinaus aber nicht wirksam handlungsfähig. Sie verfügt weder über die soft power noch über die hard power, um in ihrem geografischen Umfeld für Stabilität zu sorgen. Ihre wirtschaftliche Bedeutung wird in den folgenden Jahrzehnten weltweit sinken. Die anderen Staaten die im Zusammenhang einer „multipolaren Entwicklung" gewöhnlich genannt werden – Brasilien, Saudi-Arabien, Japan, Iran, Indonesien – verfügen zwar alle über eigene Machtmittel, aber nicht in einer Ausprägung, die ihre Rolle als Weltmacht begründen könnte. Indien sticht in dieser Gruppe aktuell hervor, aber vor allem wegen der Potenziale für die Zukunft.

Es bildet sich somit für die absehbare Zeit eine bipolare Ordnung aus. Sie bildet den Handlungsrahmen für deutsche Außenpolitik. Diese Ordnung wird doppelt gebrochen sein, zum einen durch die fortdauernde Globalisierung (siehe unten), was für die Exportnation Deutschland von besonderem Interesse ist und zum anderen durch das Störpotenzial von Mittelmächten, die zwar keine Ordnung hervorbringen, die bestehende jedoch nachhaltig bedrängen können.

3.3 Globale Macht Europäische Union?

Auf die internationale Bedeutung und die Fähigkeiten der EU ist in diesem Zusammenhang gesondert einzugehen, weil dies der Resonanzboden für die deutsche Ertüchtigung und die Bewahrung der „Freiheit der Eigenentwicklung" (Richard Löwenthal) in einer gewandelten internationalen Ordnung ist. Eigentlich wäre Deutschland gefordert, gemeinsam mit Frankreich, Polen und anderen Staaten, in der Europäischen Union Führungsaufgaben zu übernehmen. Jedoch verweigern sich die Bundesregierungen seit zwei Jahrzehnten dieser Aufgabe. Da die Kommission nicht in der Lage ist, eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und der Europäische Rat hierfür institutionell zuständig, aber meistens nicht in der Lage ist, sich auf gemeinsame Positionen zu einigen, muss diese Führungsleistung von den großen Staaten kommen – oder sie wird nicht ausgeübt. Derzeit gibt es in der EU keine interne Führungsgruppe. Obwohl sie von der Wirtschaftsleistung her nicht weit hinter den USA und China liegt, spielt die EU deshalb in politischen Fragen international nur eine untergeordnete Rolle. Das hängt damit zusammen, dass sie politisch uneins ist. Der wirtschaftliche Riese ist ein politischer Zwerg, wie die weit zurückreichende Charakterisierung lautet. Das war zuletzt in der Nahostpolitik nach dem Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 zu bemerken, als Deutschland auf der einen Seite, Spanien, Irland und Belgien auf der anderen Seite standen. Sie waren in ihren Positionen so weit voneinander entfernt, dass die Besuche der jeweiligen Repräsentanten in den Staaten des Nahen Ostens dort nur Verwirrung über die Position der EU hinterlassen konnten. Militärisch ist die EU nicht ein Zwerg, sondern eher ein Wurm. Sie ist unfähig zur Selbstverteidigung und hat sich als unfähig erwiesen, an ihren geografischen Rändern für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Um die EU herum breiten sich inzwischen zunehmend Staatszerfall und prekäre Staatlichkeit aus. Diese wiederum sind eine der Bedingungen dafür, dass es Russland und China gelingt, dort Einfluss zu nehmen, wie dies zuletzt in den Staaten der Sahel-Zone zu registrieren war. Die EU hält sich dabei selbst für eine diplomatisch einflussreiche Organisation, kann es aber aufgrund der politischen und militärischen Defizite nicht sein, weil diese die Anreize nach außen auf „Zuckerbrot" reduzieren. So agiert die Union diplomatisch als Nilpferd: kurz auftauchen, das Maul aufreißen, abtauchen. Es gilt das Zbigniew Brzezinski zugeschriebene Bonmot weiter: Wenn die Europäer eine Krise gelöst haben, war es keine.

Trotzdem ist die internationale Bedeutung der EU größer als diese knappe Charakterisierung vermuten lässt. Denn als Gegenküste, Wirtschaftsraum und Partner ist sie für beide Weltmächte, die USA und China, von ausschlaggebender Bedeutung für ihre Rivalität zueinander. Die strategische Bedeutung der EU liegt darin, dass aus amerikanischer Sicht das zentrale geopolitische Interesse lautet, dass nicht ein Staat Europa und Asien dominieren darf, weil dieser Staat dann die USA übertreffen würde. Deshalb bleibt das Interesse der USA an der EU auch in Zukunft bestehen, zumindest negativ gewendet, weil es aus amerikanischem Interesse zu verhindern gilt, dass China dominanten Einfluss über Europa erlangt. Wirtschaftlich hat China die Einflusschancen in der EU in den zurückliegenden Jahren deutlich ausgebaut. China ist an einer Destabilisierung der EU und an Russlands Dominanz in Europa interessiert, denn Russland wiederum ist in höchstem Maße auf China angewiesen. Vor allem wäre dies mit dem Ziel verbunden, die transatlantischen Beziehungen zu zerstören und die USA aus Europa zu vertreiben – ein Interesse, das Russland und China gleichermaßen verfolgen. So wie es parallel und geografisch verbunden das Interesse des Irans ist, die USA aus dem Mittleren Osten zu entfernen. Beides ist militärisch nicht möglich. Jedoch kann dies über den Weg der Beeinflussung der amerikanischen öffentlichen Meinung gelingen, wie es in den USA derzeit schon zu beobachten ist. Eine mögliche Diskussion in den USA über die Frage, ob das weitere Engagement in Europa und im Mittleren Osten überhaupt noch im amerikanischen Interesse liegt oder ob die dafür eingesetzten Ressourcen nicht besser in den USA selbst aufgewendet werden sollten, könnte über eine Beeinflussung der amerikanischen Prioritätensetzung in der Bevölkerung und der politischen Repräsentanten erreicht werden.

So ist die EU das Ziel von Weltmachtinteressen Russlands, Chinas und der USA, die das, jeweils völlig anders angelegt, umzusetzen versuchen. Diese Interessenlage kann die EU zum eigenen Vorteil nutzen. Kurz und knapp: Die Hauptressource der Geopolitik der EU ist das Interesse der Weltmächte an ihr und deren Interesse, der jeweils anderen den Zugriff auf die EU zu verwehren.

3.4 Welche Rolle spielt die Globalisierung?

Mit dem vollzogenen Aufstieg Chinas zu Beginn des 21. Jahrhunderts ging die Phase der liberalen Globalisierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu Ende. China nutzte diese Zeit, um ökonomisch zu wachsen, militärisch aufzurüsten und politisch die Kontrolle im eigenen Land zu verschärfen. Allerdings konnte es diese Strategie nicht zu Ende führen und auf diese Weise die USA überholen, denn in den USA und später im Zug der Corona-Pandemie in Europa stellte man fest, dass es strategische Güter gibt, und die Staaten des Westens von deren Produktion in China abhängig sind. Das war der erste Schlag gegen die liberale Globalisierung, von dem sie sich möglicherweise erholt hätte, wenn Putin nicht im Jahr 2022 den Krieg gegen die Ukraine intensiviert und Kyjiw angegriffen hätte. Nun wurde nicht nur bewusst (das war es auch vorher), sondern handlungsrelevant, dass europäische Staaten für ihre Energieversorgung von Russland abhängig waren. Damit setzte sich die von den USA schon zuvor unter Präsident Donald Trump angelegte resiliente Globalisierung durch, die – paradoxerweise als Kopie des chinesischen Vorgehens – aus Reindustrialisierung und Diversifikation besteht.

Graph: Außenministerin Annalena Baerbock in China im April 2023

Für Europa wurde dieser Politikwechsel mit Blick auf China unter den Begriffen des De-Coupling und De-Risking diskutiert, wobei die Begriffe mehr die Konzeptionslosigkeit umhüllen als die Lage und die angestrebten Ziele klären. Aus den Erfahrungen der strategischen Abhängigkeit wurde nicht der Schluss gezogen, ein staatliches Interdependenzmanagement aufzubauen. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik blieb stattdessen in der Vorausschau blind und Bemühungen zur Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates wurden abgeblockt. Mehr noch: In Deutschland kam es zwischen dem Bundeskanzler und seiner Außenministerin zu einem Konflikt über die grundlegende Analyse des Zustands der internationalen Beziehungen. Während Olaf Scholz die Erhaltung von möglichst viel Globalisierung auch unter den Bedingungen der Resilienz als den Haupttrend in der internationalen Politik betrachtete (wozu seine untaugliche Vorstellung von Multipolarität beitrug), sah Annalena Baerbock in der aufziehenden geopolitischen Konkurrenz die Haupttriebkraft. Beide hüteten sich, diese Frage ernsthaft öffentlich zu erörtern, um das entpolitisierte Publikum nicht seiner Distanz zu internationalen Fragen zu entfremden. An konkreten Stellen brach es aber durch: beim Verkauf von Containeranlagenanteilen im Hamburger Hafen an eine chinesische Staatsfirma oder bei den Besuchen, die beide Peking im Jahr 2023 abstatteten. Baerbock hatte dabei die realitätsnähere Analyse vorzuweisen, minderte deren Wert jedoch durch die Überfrachtung der deutschen Außenpolitik als wertegeleitete, feministische Außenpolitik. Damit riss sie in der normativen Ausrichtung wieder ein, was sie analytisch aufgebaut hatte. Entsprechend konturenlos blieb ihr Wirken und ihr Einfluss auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bisher. Doch in Scholz' Betrachtung steckt ein Korn Wahrheit: Auch wenn die Globalisierung nicht der dominante Trend für die Entwicklung der internationalen Ordnung der folgenden Jahre sein wird, so werden die in ihr angelegten Beziehungen nicht rasch zu kappen sein und fortwirken. Das unterscheidet die Bipolarität der nächsten Jahre von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR nahezu inexistent waren.

4 Die Realität geopolitischer Konflikte

Geopolitische Konflikte waren auch in der Zeit der liberalen Globalisierung nicht verschwunden, sodass die Rede von der „Rückkehr der Geopolitik" geschichtsvergessen ist. China, Russland, der Iran und Nordkorea waren auch in den Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts revisionistische Mächte, die ihre Interessen am besten in einer anderen internationalen Ordnung gewahrt sahen, weil sie dort eine einflussreichere Rolle einnehmen konnten. In der Zeit der amerikanischen Dominanz, im „unipolaren Moment", konnten sie diese Ziele nur deshalb nicht verfolgen, weil ihnen die Mittel fehlten. Die Intention ohne Fähigkeiten zwang diese Staaten, andere Schritte zu gehen, um ihre Interessen durchzusetzen. China und Russland versuchten ökonomische Abhängigkeiten aufzubauen, um andere Staaten politisch abhängig werden zu lassen. Beide Staaten nutzten diesen Zeitraum aber auch zur massiven Aufrüstung. Der Iran und Nordkorea, schon damals Paria-Staaten, strebten nach nuklearer Bewaffnung, nicht nur, um sich selbst zu schützen, sondern auch, um diese Waffen politisch offensiv einsetzen zu können. Im Westen wiederum bewertete man den Aufstieg dieser Staaten oft als „Aufstieg der Anderen." Dahinter stand die oben festgestellte fehlgeleitete Multipolaritätsperspektive, die den Blick auf die realen Entwicklungen versperrte und dem wirtschaftlichen Aufstieg keine politischen Ambitionen und mithin Bedrohungen zuordnete.

Eine andere Fehlperzeption bestand in der Erwartung, dass mit dem wirtschaftlichen Erfolg Forderungen der Gesellschaften nach politischer Partizipation erfolgreich einhergehen würden. Beide Fehlperzeptionen verdeckten den Blick auf die zwei zentralen geopolitischen Konflikte, die heute die internationale Politik bestimmen: das Streben Russlands und Chinas nach regionalen Einflusszonen und damit einhergehend die Vertreibung der USA aus diesen Räumen. Erst der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erschütterte dieses Denken. Die Betrachtung der russischen Entwicklung führte dann bei manchen dazu, China und den Konflikt um Taiwan in einer Analogie zu bewerten. Dabei wurden Ähnlichkeiten herausgestellt und Unterschiede identifiziert, jedenfalls wurde die geopolitische Herausforderung auf diese Weise sichtbar. Denn die USA aus dem Pazifik zu vertreiben ist die dritte, von China selbst übernommene Aufgabe, um die amerikanische Dominanz in den internationalen Beziehungen zu brechen.

Bei manchem Entscheidungsträger ist die Einsicht in die dreifache Herausforderung der USA – in Europa, im Pazifik, im Mittleren Osten – allerdings bis heute nicht angekommen. Für die Sicherheit Europas ist deshalb wichtig hinzuzufügen, dass der Iran dasselbe Interesse im Mittleren Osten verfolgt wie Russland in Europa und China im Pazifik: die USA zu vertreiben. Deshalb die militärischen Nadelstiche im Irak, in Syrien und im Roten Meer. Sie sollen nicht die USA militärisch schlagen, sondern es ist das Ziel, in den USA die Stimmung kippen zu lassen, sodass die Haltung „Das sind nicht unsere Konflikte, wir ziehen ab" obsiegt. Dasselbe möchte Russland in Europa erreichen und China im Pazifik. Die Europäer müssen die anderen beiden Konfliktkonstellationen mitbedenken, um die Handlungsoptionen der USA einschätzen zu können, auch wenn sich die Analyse hier, aufgrund der unmittelbaren Bedrohung, besonders auf Russland konzentriert. Deshalb ist von Bedeutung, welchen Zweck Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine verfolgt und welche Entwicklung Russland innenpolitisch genommen hat.

4.1 Die geopolitische Herausforderung durch Russland

Russland hat den Krieg gegen die Ukraine 2022 intensiviert, weil – anders als im Fall von Belarus – die kalte Übernahme des Staates durch Destabilisierung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten nicht gelang. Wäre die Einnahme der Ukraine wie bei der Besetzung der Krim mit hybriden Mitteln möglich gewesen, wäre dies sicher die präferierte Form der Eroberung gewesen. So mussten die russischen Streitkräfte massiv eingesetzt werden, um den Zweck zu erreichen, Russland neben den USA und China als dritte Weltmacht zu etablieren. Für den Kontext der europäischen Handlungsmöglichkeiten ist dies von größter Bedeutung, denn den Krieg führt Russland gegen die Ukraine, den politischen Konflikt hingegen gegen die EU.

Russland und die EU verfolgen diametrale ordnungspolitische Interessen in Europa und verkörpern antagonistische Ordnungsmodelle. Die EU ist eine post-imperiale Sicherheitsgemeinschaft, in der auch die Staaten, die zuvor versuchten, Europa zu unterwerfen, aufgehoben und zivilisiert worden sind. Und dies sogar im berühmten dreifachen Wortsinn: Ihre imperialistischen Ambitionen wurden verworfen, ihre souveräne Staatlichkeit bewahrt und durch die Zusammenarbeit in der Sicherheitsgemeinschaft normativ und, sollte dies irgendwann in Zukunft gelingen, auch machtpolitisch erhöht. Russland muss, um seine eigenen imperialen Zwecke durchzusetzen, diese Sicherheitsgemeinschaft zerschlagen, Räume unterschiedlicher Sicherheit und Bedrohung aufrufen und bilaterale, hegemoniale Beziehungen zu Mittelmächten zur Beherrschung des Raums etablieren. Solange Russland diese Ambitionen aufrechterhält und Europa dominieren möchte, bleibt dies die unmittelbare Bedrohung für die EU, die sie abwehren muss. Die innere Entwicklung Russlands verfestigt diese Ambitionen, weil das System über seine kleptokratische Phase hinaus faschistische Strukturen ausbildet, die den Machtanspruch nach außen im Inneren zementieren.

Die Feststellung, wonach Russland ein faschistisches politisches System ausgebildet hat, ist wichtig, denn dieser Umstand verhindert, dass in absehbarer Zukunft normalisierte Beziehungen zwischen der EU und Russland ausgebildet werden können. Der Faschismus im Inneren und der Imperialismus nach außen sind zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig verstärken und die einander benötigen. Um die imperialistische Expansion nach außen über viele Jahre weiter zu führen, wie es die russische Führung ankündigt, wird sie im Inneren immer weitere faschistische Elemente ausbilden. Denn – um es plakativ zu verkürzen – Putin ist von einem „Spin-Diktator" zu einem „Angst-Diktator" geworden.

Russlands politische Ordnung hat sich in den zurückliegenden Jahren stark gewandelt, eine Entwicklung, die mit dem umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine und den sich aus dem frühen Scheitern sowie sich daraus ergebenden politischen Anforderungen rasant beschleunigt hat. Abschreckung gegen und Distanz zu Russland sind für absehbare Zeit die einzige Möglichkeit, Sicherheit und Wohlstand in EU-Europa zu erhalten. Denn Russland hat sich unter Putin von einem autoritären Staat zu einem faschistischen Staat gewandelt.

Das politische System Russlands wurde in den letzten zwanzig Jahren sehr unterschiedlich eingeschätzt. Nach dem Amtsantritt Wladimir Putins wurde das Land von manchen Beobachtern und noch mehr Politikern auf dem Weg zur Demokratie gesehen und viele hielten sehr lange daran fest, dass Russland darin unterstützt werden müsse. Diese Politik wurde weiter betrieben, obwohl die Zivilgesellschaft in Russland mehr und mehr an die Kandare genommen wurde, Russland seit 2008 aggressiv nach außen auftrat und sogar Kriege gegen Georgien und die Ukraine führte. Die Befürchtung, Putin provozieren zu können, bestimmte die scheuen Entscheidungen im Westen. Allerdings unterließen es die Amtsträger, die eigenen Fähigkeiten so aufzubauen, dass die Furcht vor Putin nicht zur Selbstabschreckung führte.

Vielen Beobachtern war schon bald deutlich, dass Russlands Entwicklung in eine andere Richtung geht und Putin mit seinem Umfeld eine Kleptokratie aufbaut, in der sich die politische Elite den Reichtum des Landes „unter den Nagel reißt." Später wurde Russland als Mafia-Staat bezeichnet, in dem unterschiedliche Bosse im Mafia-Stil Organisierter Kriminalität um den Zugriff auf die lukrativen Geschäfte konkurrieren – und Putin am Ende immer gewinnt und am meisten von der Beute erhält. Verschiedene Entwicklungen konnten so beschrieben werden, doch Russlands politisches System hat sich in den zwei Jahrzehnten weiter verändert. Es hat sich von einem autoritären und kleptokratischen hin zu einem faschistischen Staat entwickelt.

Das ist eine wesentliche Entwicklung, die zur Beschränkung des außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraums Deutschlands beiträgt. Denn mit einem autoritären Russland wäre vielleicht zukünftig ein anderer Umgang möglich als mit einem faschistischen. Das faschistische Russland kann außenpolitisch nicht saturiert sein, es muss Krieg führen, es muss die territoriale Erweiterung suchen. Das wäre bei einem autoritären Staat auch anders möglich. Deutschland und die EU haben es aber auf absehbare Zeit mit dem faschistischen Russland zu tun.

Diese Aussagen mögen für manche befremdlich klingen, denn das historische Bild des Faschismus sieht anders aus als die Entwicklung in Russland. Nach ihm steht am Anfang eine strikt geführte, gewaltbereite Massenbewegung, die ein verhasstes politisches System hinwegfegt, um den Anführer dieser Massen als unumschränkten Befehlshaber einzusetzen. Bei Putin war das anders. Er kam aus der Staatsbürokratie, bewegte sich in verschiedenen Verwendungen bis an die Spitze des Kremls. Er kam nicht als charismatischer Anführer ins Präsidentenamt. Es gab auch keine Massenbewegung, die ihn dorthin trug, keine Symbole, die seit seiner ersten Präsidentschaft die Bewegung kennzeichnen. Inzwischen ist das „Z" zum Zeichen von Putins Russland geworden. Es lässt deutlich werden, dass Putin den russischen Faschismus im Amt entwickelt hat. Letzterer entfaltete sich von oben aus dem Staatsapparat heraus. Und Putin inthronisierte sich aus der Präsidentenrolle in die des neuen Zaren, der Russlands Größe wiederherstellen will, ja muss. Mit dem umfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt sich der russische Faschismus jetzt offen.

Hätte der Angriff auf Kyjiw im Februar 2022 zur ukrainischen Kapitulation geführt, wäre die Camouflage der faschistischen Entwicklung möglicherweise noch weitergegangen. Aber mit jeder militärischen Niederlage blieb Putin nichts anderes übrig, als die Herrschaftsbedingungen im Inneren zu verschärfen und die gewalttätigen Absichten nach außen noch rücksichtsloser durchzusetzen. Die auf den Krieg konzentrierte Lenkung der russischen Gesellschaft und die Zerstörung des zivilen Lebens in der Ukraine ließen sich nicht mehr verschleiern. Das politische System baute sich in Russland nun kohärenter aus. Dazu zählen die unverschleierte Konzentration der Macht bei einer Person, das Versprechen, die alte nationale Größe nach Erniedrigungen wiederherzustellen, die Überhöhung des eigenen Volkes zum Träger einer spezifischen Zivilisation, die Durchziehung der Gesellschaft mit Gewalt gegen alles andere, die kompromisslose Repression, die Zerstörungswut nach außen sowie die Ausbildung eines korporatistischen Staates, der die Wirtschaft kontrolliert. All dies wurde in den zurückliegenden zwei Jahren verschärft, griff immer weiter ineinander und markierte den Weg Russlands zum faschistischen Staat.

Putin wurde nicht von einer breiten Massenbewegung als Anführer dieser Entwicklung getragen, das musste er schon selbst bewerkstelligen. Dazu verhalf ihm die Machtfülle des Amtes, die Kontrolle über die Medien, die lange Amtszeit und dass es ihm während dieser Zeit gelang, die unterschiedlichen Fraktionen in der politischen und wirtschaftlichen Elite Russlands auszubalancieren. Wer widersprach wurde kaltgestellt. Zudem wurden alle Sicherheitsorgane, die alten und die parallel dazu aufgebauten neuen paramilitärischen Verbände, dem Präsidenten direkt unterstellt. Ein politisches Gegengewicht gibt es schon seit Längerem nicht mehr, das Parlament ist eine politische Schwatzbühne. Dabei stellte Putin sich einige Zeit als „Diener Russlands und seiner Bürger" dar. Das änderte sich mit der Zeit. Spätestens als er sich, in seiner Bedeutung für Russland, mit Peter dem Großen gleichsetzte, war deutlich, dass er seine Rolle nicht nur historisch, sondern im politischen System neu definierte. Der parallel intensivierte Stalinkult fokussierte die Aufmerksamkeit nicht nur auf dessen Herrschaft in der sowjetischen Geschichte, sondern förderte zudem ganz generell die Orientierung auf den starken Herrscher. Auch die Zaren wurden in die Präsentation großer Herrscher einbezogen und im öffentlichen Raum dargestellt. Russlands politische Ordnung wurde nun auf den neuen Zaren fokussiert, auf Putin. Schon 2014 wurde verkündet: Ohne Putin gibt es heute kein Russland!

Die diesem Herrschaftsanspruch entsprechende Aufgabe, die Wiederherstellung früherer nationaler Größe, hat Putin jahrelang vorbereitet. Die USA aus Europa zu verdrängen und die politische Dominanz über Europa ausüben zu wollen, war von Anbeginn sein programmatisches Ziel. In seiner vermeintlich offenen und liberalen Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2001 ist dies schon enthalten. Putin strebte die Wiederherstellung der russischen Einflusszone in Europa und Zentralasien an, die während der Sowjetunion die höchste Ausdehnung erfahren hatte. Diese wollte er wieder aufbauen, von Wladiwostok bis Lissabon sollte Russlands bestimmender Einfluss reichen. Nach der Auflösung der Sowjetunion war dies nicht mit einem Schlag zu erreichen. Internationale Absprachen und Einflussnahmen, um europäische und zentralasiatische Staaten von Russland abhängig zu machen, gehörten zu den Mitteln, um dieses Ziel vorzubereiten. Auf politische Parteien in den europäischen Demokratien wurde Einfluss gesucht. Auf diesem Weg misslang es jedoch, dieses Ziel zu erreichen, weil die EU stabiler war als Putin dachte, und weil Chinas Einfluss in Zentralasien bald den russischen ausglich. Die Wiederherstellung alter nationaler Größe konzentrierte sich dann im ersten Schritt auf die „Russische Welt" und mit Belarus und der Ukraine waren zunächst zwei große Staaten identifiziert, die Putin Russland einverleiben wollte. Mit dem Krieg rückte das Versprechen, die „Russische Welt" wieder zu errichten, an die erste Stelle der gewaltbereiten politischen Agenda.

Dazu mussten die Bedeutung Russlands in der Welt und sein zivilisatorischer Anspruch überhöht werden. Russland wird als etwas Eigenes, Unvergleichliches, Einzigartiges dargestellt, einmalig auf der Welt, historisch verankert und in strikter Abgrenzung zum Feind, dem liberalen Westen. Zwischen Russland und der EU existiert in diesem Denken eine unüberwindbare kulturelle Grenze, weshalb Russlands Integration in eine europäische Sicherheitsordnung gar nicht möglich erscheint. Gegen die „verkommenen USA" und „Gayropa" werden traditionelle Werte, wie etwa die herkömmliche Familie, feste Geschlechterrollen, Patriotismus und die eigene Religion, die ein wichtiges Instrument zur Ausbildung nationaler Identität ist, betont. Homosexualität und Feminismus werden in der russischen Gesellschaft zur Charakterisierung des „perversen" Feindes genutzt, der durch die Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens die „Russische Zivilisation", die „Russische Welt" zerstören will. Der Angriff auf die Ukraine kann so als Verteidigung dargestellt werden, denn „das Russische" sei bedroht. Der Überhöhung des russischen Volkes korrespondiert die Entmenschlichung anderer Völker, allen voran der Ukrainer, die ausgelöscht werden müssen, weil sie sich vom Feind gegen Russland instrumentieren lassen. Der Genozid an denjenigen, die in der „Russischen Welt" nicht russisch sein wollen, ist die Rückseite dieses „zivilisatorischen Anspruchs." Mit der Charakterisierung als Nazis, die für europäische Völker und ihre Repräsentanten in der Propaganda eingesetzt wird, lässt sich jeder als Feind identifizieren. Zunächst die Ukraine, doch die Propaganda ließ keinen Zweifel, dass später andere Völker folgen werden.

In der „Russischen Welt" ist für Ukrainisches kein Platz. Die ukrainische Kultur, ihre Sprache, ihr Geschichtsbewusstsein, selbst ihre orthodoxe Religion müssen gemäß diesem russischen Mythos ausgelöscht werden, wenn Russland seinen „zivilisatorischen Auftrag" erfüllen will. Die Ukraine als Volk muss verschwinden und dieses Programm, das Putin geschichtspolitisch ausführte und zum Leitbild des Krieges erklärte, versucht er nun umzusetzen. Wenn die Ukraine ausgelöscht werden soll, müssen die Menschen umerzogen oder umgebracht werden. Die „Russische Welt" wurde zum Mythos Russlands hochstilisiert, religiös und „zivilisatorisch" begründet. Ein völkischer Mythos, der das Leben jedes Russen wert sei, der dafür im Kampf fällt, so jedenfalls Putin.

Dazu gehört auch die „innere Reinigung" von Verrätern, denn wer diesen Mythos nicht unterstützt, will ihn zerstören, so wie es die feindlichen Mächte von außen versuchen. Putin hat das so formuliert: „Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk, wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist."

Russland verfolgt eine Politik der kulturellen Reinheit. Dazu muss die russische Gesellschaft an Gewalt als härtestem Ausdruck menschlicher Energie orientiert werden. Hier klafft derzeit noch eine Lücke im faschistischen Russland, denn Putin erwartete nicht, sie jetzt schon brachial schließen zu müssen. Vielmehr war die Annahme für den Krieg, der deshalb in Russland auch Militärische Spezialoperation heißt, dass die Gleichgültigkeit der russischen Bevölkerung ausreicht, um alle anderen Ziele zu erreichen. Das erwies sich als falsch, weil die russischen Streitkräfte nicht eines der ihnen befohlenen Ziele erreichen konnten. Mit der hohen Zahl an toten und verwundeten Soldaten, der daraufhin notwendigen teilweisen Mobilmachung und den nun zunehmenden ukrainischen Drohnen-Angriffen auf russisches Territorium, ist die Gleichgültigkeit gemindert. Dass Putin die Flucht von einer Million wehrfähiger Männer nicht voraussah, schwächt sein Vorhaben zusätzlich. Die Rekrutierung von Strafgefangenen und die Anwerbung von Ausländern blieben als Ausweg.

Das wird sich ändern. In den Kindergärten wird – wie schon zu Sowjetzeiten – militärischer Drill eingeführt und in den Schulen wird es Militärunterricht gegeben. Eine Marketingwelle rollt über Russland, die „echte Männer" auffordert, ihr Land und ihre Familien zu verteidigen. Finanzielle Anreize wirken. Demonstrationen der Gewalt werden zukünftig noch stärker eingesetzt werden. Nach und nach wird Gewalt die sozialen Beziehungen in Russland mehr und mehr durchziehen und die Grundlage für die nachholende faschistische Massenbewegung ausbilden. Parallel wird die während des Krieges zunehmende Repression auf Dauer und die Sicherheit des faschistischen Regimes über jede ökonomische Kalkulation gestellt. Ob gegenwärtig wirklich 80 Prozent der Russen Putin und den Krieg unterstützen, ist fraglich. Das Regime wird jedoch alles tun, dass es zukünftig 90 Prozent sein werden. Auf diesem Weg wird die Gefolgschaft geschaffen, die den Anführer Putin tragen soll. Der Staat schluckt die Gesellschaft, die keine Kraft findet, sich vom Faschismus zu emanzipieren.

Graph: Besuch des damaligen russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu in der Militärschule Twer Suworow im Jahr 2021

Parallel dazu wird die russische Gesellschaft immer stärker dazu gebracht werden, die Gewalt nach außen mitzutragen und nicht nur gleichgültig hinzunehmen. Die Gewaltanwendung gegen andere, das Führen von Kriegen ist schon jetzt ein Kennzeichen Russlands, das auf lange Sicht angelegt wurde, denn Putin befiehlt die Anwendung militärischer Gewalt seit er im Amt ist. Mit dem Krieg gegen die Ukraine erfasst diese Haltung die gesamte Gesellschaft, in der niemand mehr am Arbeitsplatz, im Familienkreis, schon gar nicht im öffentlichen Raum, gegen den Krieg und den Kriegsherrn im Kreml sprechen kann. Krieg zu führen und auch jederzeit damit zu drohen wird nun auch programmatisch zur außenpolitischen DNA Russlands. Die territoriale Expansion, die im nationalen Mythos angelegt ist, bleibt das Programm Russlands, das als nationale Wiedergeburt zelebriert wird.

Schließlich sichert sich der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft, wie es Putins Wirtschaftspolitik von Beginn an kennzeichnete. Die ungezügelte Privatisierung der Jelzin-Jahre wurde zurückgedreht, Oligarchen enteignet oder eng an die Staatsmacht gebunden, die Kontrolle über die wichtigen Sektoren – Energie, Rüstung, Landwirtschaft – intensiviert, wobei die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft auch diese Prozesse nochmals verfestigt hat. Die Wirtschaft ist an den Staatszielen ausgerichtet, unternehmerische Entscheidungen gegen den Staat sind nicht möglich, Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen zahnlos.

Die Entwicklung Russlands zum faschistischen Staat zeigt sich auch an den vierzehn Kriterien, die Umberto Eco zur Erkennung solcher Staaten formuliert hat. Russland erfüllt sie alle. Gegen den Pluralismus betont es Tradition; Gewalt wird als legitimes Mittel angesehen; Russland handelt ohne moralische Reflexion; der kritische, rationale Diskurs im Land wird unterdrückt; Schwache werden verachtet; die Emanzipation von Frauen wird unterdrückt; das Land verfolgt einen völkischen Ultranationalismus; die politische Opposition wird unterdrückt; Verschwörungserzählungen und Feindbilder prägen die Propaganda; die Wiedergeburt des Landes aus der Krise durch einen heroischen Anführer wird verkündet; Massenmobilisierung wird durch Propaganda verstärkt; das Individuum wird der nationalen Bewegung untergeordnet; eine Kultur der starken Anführer wird zelebriert; es herrscht Zensur.

Warum ist es wichtig, Russlands politische Ordnung zu beschreiben wie sie ist? Es geht nicht um Begriffe, sondern um die Frage, was daraus praktisch folgt. Wäre Russland ein autoritärer Staat mit einer Fassadendemokratie oder eine Kleptokratie ließen sich die Beziehungen nach dem Krieg anders gestalten als es gegenwärtig notwendig ist, da Russland sich zu einem faschistischen Staat entwickelt hat. Mit diesem kann es keinen offenen und breiten Austausch sowie keine gemeinsame Gestaltung der europäischen Sicherheitsordnung geben. Priorität muss die vollumfängliche und effektive Abschreckung Russlands haben, sodass dessen Führung keine Entscheidung zur Ausweitung des Kriegs in Europa trifft. Die Abschreckung in Zentralasien hat inzwischen China organisiert.

Anhand der Entscheidungen der Bundesregierung lässt sich schließen, dass sie diese Schlussfolgerung nicht gezogen hat. Möglicherweise hält sie noch an einem Russlandbild fest, das aus früherer Zeit stammt, und glaubt, Deutschland könne eine Vermittlerrolle einnehmen – so wie seinerzeit bei den Verhandlungen im Normandie-Format in Minsk. Wenn dem so wäre, dann wäre das ein schweres Versäumnis und ein großer Fehler. Dann würden die Konsequenzen der russischen Entwicklung für die europäische Staatenordnung, für Sicherheit, Wohlstand und Demokratie in der Europäischen Union völlig falsch bewertet. Es würden sich die Fehler wiederholen, die zum Krieg in der Ukraine beigetragen haben, nämlich dass Russland jahrelang falsch eingeschätzt wurde. Russlands Entwicklung zum Faschismus und Aggressor ist derzeit die fundamentalste Herausforderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Alles, was die Bundesregierung tut, muss daran gemessen werden, was sie zur Abwehr von Russlands Ambitionen beiträgt. Deshalb ist der analytische Blick in die russische Entwicklung so bedeutsam und wurde hier so ausführlich ausgeführt. Hier nehmen alle Bedingungen für die Gestaltung einer europäischen Sicherheitsordnung ihren Ausgangspunkt. Sollte sich die Lage in Russland ändern, würde sich der deutsche Handlungsspielraum ebenfalls ändern. Angesichts von Russlands faschistischer Entwicklung bleibt er ziemlich eng.

4.2 Geopolitik und Geoökonomie

Aus europäischer Sicht – und hier insbesondere aus deutscher und französischer Perspektive – verbinden sich die Entwicklungen der für Europa bestimmenden geopolitischen Konflikte und die Transformation der Globalisierung in widersprüchlicher Weise. Die russische Herausforderung tritt dabei in der konzeptionellen Anlage der Außenpolitik Deutschlands und anderer europäischer Nationen im Rahmen des Konflikts zwischen den USA und China wieder teilweise zurück. Dem Dilemma, das sich zwischen den zuwiderlaufenden Entwicklungen auftut, wollten die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, dadurch entgehen, dass man sich entschloss, in geopolitischen Fragen die Position der USA zu unterstützen – zumeist abgeschwächt durch die konstanten Hinweise auf Kooperationen, die aus der fortdauernden Globalisierung weiterwirkten. Tatsächlich zielt die deutsche Politik wie die vieler europäischer Regierungen darauf ab, eine Politik der Äquidistanz zwischen China und den USA halten zu können. Das bedeutet, dass die Fortführung eines intensiven Handelsaustausches und einer zunehmenden Verflechtung durch Auslandsinvestitionen mit China und den USA miteinander vereinbart werden können. Dabei unterscheiden sich die deutsche und französische Außenpolitik nochmals: Frankreich verbindet mit intensiveren Beziehungen zu China das Ziel einer strategischen Autonomie der EU, während die deutsche Außenwirtschaftspolitik mit der Absicherung des chinesischen Marktes für deutsche Unternehmen zufrieden ist, die darüber hinaus die USA nicht reizen wollen. Zur Komplettierung der EU-Positionen kann noch die Haltung Litauens angeführt werden, die so taiwanfreundlich und chinakritisch war, dass China das Land aus der Liste der Handelspartner strich. Inzwischen wurde diese Entscheidung zurückgenommen. Die EU verfügt in den Grundfragen der internationalen Entwicklungen auch hier über keine gemeinsame Position und viele EU-Staaten verfolgen unterschiedliche Ziele. In der aufkommenden Bipolarität haben die EU-Staaten ihren Platz noch nicht politisch definiert, geschweige denn gefunden.

4.3 Die zunehmende Relevanz des Konflikts zwischen den USA und China

Eine derartige Politik wird für die EU-Staaten zukünftig mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten und sicherheitspolitischen Unwägbarkeiten verbunden sein. Der Konflikt zwischen den USA und China, die beide fähig und gewillt sind, internationale Dominanz auszuüben, wird nicht nur die Staatenbeziehungen, sondern auch die Marktbeziehungen – und damit den einzigen Bereich, in dem die EU internationales Gewicht aufweisen kann – betreffen. Der geopolitische Konflikt zwischen den USA und China hat heute schon enorme Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Austausch und die Investitionen. Diese staatlichen Maßnahmen der gegenseitigen Einschränkungen, vom Chip-Krieg bis zur strategischen Dimension der One Belt One Road-Initiative, werden zukünftig durch Marktverhalten verstärkt werden, weil Unternehmen die Kosten geopolitischer Fehlkalkulationen einrechnen müssen. Dies hat im Fall Russlands vielen Unternehmen hohe Wertberichtigungen abverlangt.

Auf diese Weise werden die staatlichen Maßnahmen zur gegenseitigen Beschränkung verstärkt. Der geopolitische Konflikt aber ist die Haupttriebfeder dieser Entwicklung. Er hat in seiner international strukturierenden Kraft die Globalisierung abgelöst und die transnationalen Beziehungen werden sich entsprechend neu ordnen. Für Europa heißt das, dass es angesichts der Spannungen zwischen den USA und China nicht als Vermittler tätig werden kann. Vielmehr müssen sich Staaten und Unternehmen in diesem neuen Gravitationsfeld neu aufstellen. So wie gegenwärtig die USA die Beziehungen zu Europa aufrechterhalten wollen und gleichzeitig die europäisch-chinesischen Beziehungen eindämmen möchten, strebt China danach, die Beziehungen zu Europa auszubauen, während die europäisch-amerikanischen Beziehungen ausgedünnt werden sollen. In chinesischer Diktion heißt das, dass sich die EU als emanzipierter, eigenständiger Akteur in den internationalen Beziehungen aufstellen und ihren Vasallenstatus gegenüber den USA damit verlassen soll. Der französische Präsident Emmanuel Macron erwies sich für diese Art der Kommunikation als ausgesprochen anfällig und löste 2023 damit eine innereuropäische Verstörung aus. Damit steht die EU zwei Weltmächten, die miteinander in Konkurrenz liegen, gegenüber und könnte, sofern man von der inneren Verfasstheit absieht, beide gegeneinander ausspielen. Aber derzeit sieht es eher so aus, als ob sich die Europäer gegeneinander ausspielen ließen.

4.4 Russland in Europa

Hier kommt jedoch Russland ins Spiel, das im Konflikt der beiden Weltmächte schon die Seite gewählt hat: nämlich diejenige Chinas. Denn Russland hätte auch die Option offen gestanden, den Weg nach Westen anzutreten. Mit dem Pariser Vertrag von 1990 und der NATO-Russland-Grundakte von 1997 waren die institutionellen Wege für eine solche Entwicklung angelegt. Russlands Elite hatte sich jedoch schon in den 1990er-Jahren entschieden, eine dominante Stellung in Europa anzustreben und sich nicht in die westlichen Bündnisse einzuordnen, sondern sie überwinden zu wollen. Die Auflösung der NATO – quasi als Pendant zur Auflösung des Warschauer Pakts – wurde von Russland und seinen Lobbyisten seither immer wieder propagiert. Das wäre das Ende der EU mit gleicher Sicherheit für alle EU-Staaten gewesen, für die in Europa nicht die EU, sondern die NATO sorgt. Insofern ist die Anlehnung der EU-Staaten an China nur unter der Bedingung zu erhalten, dass man Russland die Dominanz über die europäischen Staaten zugesteht. China und Russland sind, um es salopp zu sagen, nur im Doppelpack zu bekommen.

Damit wird der Konflikt um die internationale Orientierung der europäischen Staaten auch ausgetragen als Konflikt zwischen der Bewahrung der demokratischen Staatsform und Lebensweise sowie der von einigen Parteien in Europa angestrebten Re-Orientierung auf Russland. Diese Orientierung wäre konsequenterweise mit dem Aufbau autoritärer Strukturen in europäischen Staaten verbunden. Ungarn wäre gegenwärtig wohl der leichteste Fall. Doch die Entwicklung Russlands zum faschistischen Staat – ausgedrückt in der Stellung des Anführers, der Sozialisation und Repression der Gesellschaft und dem völkischen Dominanzanspruch nach außen – würde einen weit engeren Handlungsspielraum für demokratische politische Ordnungen in Europa bedeuten.

Die Entwicklung könnte jedoch auch anders angeschoben werden, indem nicht internationale Beziehungen auf die innere Ordnung einwirken, sondern EU-Staaten autoritäre politische Systeme ausbilden, was dann zu einer außenpolitischen Neuorientierung führen könnte. Das ist nicht ganz ausgeschlossen, doch ist die EU ein einigermaßen fester Rahmen, in dem diese Entwicklungen bisher gedämmt, wie Italien aufzeigt, eingehegt, wie Ungarn zeigt, oder sogar revidiert werden konnten, wie Polen belegt. Das heißt nicht, dass dieser europäische Demokratie-Rahmen in Zukunft stabil bleiben muss, insbesondere, da mit Russland und China zwei Staaten intensiv daran arbeiten, diesen Rahmen zu perforieren. Nationalpopulistische und rechtsextremistische Kräfte haben die Chance auf Machtübernahme und können sie in Zukunft haben. Das würde die Betrachtung der Handlungsspielräume für die EU-Staaten nachhaltig verändern. Doch wird diese Perspektive hier nicht weiterverfolgt, sondern davon ausgegangen, dass die EU-Staaten ihre demokratische Ordnung verteidigen werden. Das schränkt somit den Handlungsspielraum gegenüber China und Russland ein.

5 Welche Richtung nimmt Europa?

Die EU-Staaten entwickeln schon seit geraumer Zeit die Integration fort, ohne wirklich zu wissen, in welche Form sie führt. Das ist angesichts der Handlungsbeschränkungen in der EU, insbesondere der komplizierten Mehrheitsfindung und der Möglichkeit von Veto-Positionen nicht anders zu erwarten und wäre nur durch eine Vertragsänderung zu überwinden, die aber wiederum an den Veto-Positionen einzelner Staaten scheitern würde, weshalb sie von niemandem auch nur versucht wird. Ein Angriff Russlands auf einen Nachbarstaat, wie er am 24. Februar 2022 auf die Ukraine erfolgte, hätte zu einem Pearl Harbor-Moment führen können, also zu einer Situation, in der alle Staaten aufgeschreckt durch die russische Aggression über ihren Schatten in eine vertiefte Zusammenarbeit springen. Offenkundig hat diese Aggression diesen Effekt nicht erzielt. Es ist schwer vorstellbar, was Bedrohlicheres als ein alle Teilstreitkräfte umfassender Krieg geschehen könnte, um eine Entwicklung zu einem Bundesstaat anzustoßen.

Das Szenario, dass sich die EU als wie auch immer geartetes Staatengebilde konstituiert, das über eine umfassend handlungsfähige Exekutive verfügt, kann deshalb für die absehbare Zukunft ausgeschlossen werden. Damit sind auch alle Überlegungen hinsichtlich einer einheitlichen europäischen Armee, europäischen Nuklearwaffen (dazu detailliert später) und Entscheidungen über die Grundfragen europäischer Sicherheit aus einer Hand wenig tragfähig. Die EU wird kein Bundestaat und muss deshalb mit den komplexen Verfahren, die seine politische Willensbildung ausmachen, versuchen, Sicherheit zu organisieren. Das schränkt den Handlungsspielraum weiter ein, weil nicht nur zu jeder Zeit unterschiedliche Interessen bestehen, sondern weil diese durch Regierungswechsel in den einzelnen Mitgliedstaaten auch häufiger geändert werden können. Auch in Demokratien bildet sich trotz der Parteienkonkurrenz gewöhnlich ein außenpolitischer Konsens aus, der mit graduellen Abweichungen die Regierungswechsel übersteht. Je stabiler die internationale Ordnung, desto dauerhafter kann dieser Konsens ausgeprägt werden. In einer Phase der Neugestaltung der internationalen Ordnung ist dies schon herausfordernder, umso mehr als 27 Regierungen beteiligt sind und in Zukunft noch weitere daran beteiligt werden sollen.

Der ordnungspolitische Konflikt zwischen Russland und der EU spiegelt sich jedoch auch in der außenpolitischen Orientierung von Parteien in den EU-Staaten wider, in Deutschland etwa durch die russlandfreundliche Ausrichtung der AfD, der Linken und des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die opportunistische Nutzung abweichenden Verhaltens zur Optimierung der nationalen Vorteile kann zudem auch immer wieder die außen- und sicherheitspolitische Orientierung der EU-Staaten betreffen und jederzeit zu Turbulenzen führen. Der Ausweg aus solchen Zuständen in einen einheitlichen politischen Willen, der in einem EU-Bundesstaat ausgebildet werden könnte, bleibt der Integrationsgemeinschaft auf absehbare Zukunft versperrt. Unter der Bedingung dieser Ungewissheit muss sie immer wieder versuchen, ihre Sicherheit neu herzustellen.

5.1 Eine europäische nukleare Abschreckung?

Diese Einschränkung hat bei keiner sicherheitspolitischen Aufgabe so deutliche Konsequenzen wie bei der nuklearen Abschreckung für die EU. Die Drohungen Russlands, die EU nuklear anzugreifen, wenigstens zu erpressen, wie sie im russischen Fernsehen schon gesellschaftsfähig gemacht wurden und in regelmäßigen Abständen von hochrangigen russischen Staatsvertretern geäußert werden, sollen zwar auch Angst und Schrecken verbreiten und die europäischen Gesellschaften von einer Unterstützung der Ukraine abhalten. Sie sind deshalb jedoch nicht einfach abzutun, denn neben ihrer weiteren zweiten Funktion, die Sicherheit Russlands durch Abschreckung zu gewährleisten, haben sie für die russische Führung nun auch noch eine dritte Funktion: politische Erpressung. Russland ist der erste Staat, der Nuklearwaffen hierfür politisch offensiv einsetzt. So ist es kein unwahrscheinliches Szenario, dass Russland die osteuropäischen Staaten, vornweg die drei baltischen Staaten, mittels nuklearer Erpressung zu genehmem Verhalten zwingen könnte, wenn es keine diese Drohungen ausgleichende Abschreckung aus Europa gibt. Desinformation, politische Destabilisierung, Proteste und eine Drohung zum Wohlverhalten von außen könnten eine Mischung sein, die im hybriden Krieg zum Erfolg führt. Insofern hat die nukleare Abschreckung, neben der konventionellen, einen hohen Stellenwert für die EU.

So langsam beginnt auch eine Diskussion zu dem Thema in Deutschland, das viele Jahre nur randständig angesprochen und nie ernsthaft verhandelt wurde. Die derzeit zirkulierenden Vorschläge reichen von einer Erweiterung der Abschreckungsleistung der französischen Arsenale, über eine erweiterte nationale nukleare Bewaffnung und konzertierten europäischen Nuklearwaffen der Mittelmächte, bis hin zu genuinen EU-Nuklearwaffen. Wie tragfähig sind die jeweiligen Varianten?

Die französischen Nuklearwaffen wurden als nationale Abschreckung konzipiert und in den Jahrzehnten seither auch so betrachtet. Sie unterstreichen zudem Frankreichs herausgehobene internationale Stellung, die sich auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zeigt, wo Frankreich über ein Veto verfügt. Wenig andere Fähigkeiten unterstreichen diese internationale Position des Landes so eindrücklich. Frankreich hat seine Nuklearwaffen, anders als Großbritannien, nicht in die NATO eingebracht, sondern als nationale Abschreckung bewahrt. Präsident Macron wurde mehrmals mit mehr oder weniger eindeutigen Hinweisen vernommen, dass die französischen Nuklearwaffen auch andere Staaten der EU schützen könnten. Zuletzt formulierte er Ende Januar 2024, die französischen Nuklearwaffen seien „teilweise weitgehend europäisch." Seine Konkurrentin Marine Le Pen konterte, indem sie die Europäisierung der französischen Nuklearwaffen „Wahnsinn" nannte. Weder hat dies ein anderes EU-Land aufgegriffen noch gab es hierzu ernsthafte Verhandlungen. Sollte dieser Weg gewählt werden, hätte der französische Präsident die Entscheidung darüber zu treffen, ob beispielsweise nukleare Drohungen gegen die baltischen Staaten mit einer glaubhaften französischen Gegendrohung beantwortet werden. Das Grundproblem erweiterter Abschreckung stellt sich hier wie stets: Ist eine Regierung bereit, die Existenz des eigenen Staates für einen anderen Staat zu riskieren? Zwischen der erweiterten Abschreckung der USA für die europäischen NATO-Staaten und einer erweiterten Abschreckung durch Frankreich besteht dabei ein doppelter Fähigkeitsunterschied. Erstens sind die nuklearen Fähigkeiten der USA in ein umfassendes konventionelles Fähigkeitsspektrum integriert, wodurch aus zahlreichen Handlungsoptionen ausgewählt werden könnte. Zweitens können die USA Russland nuklear auf Augenhöhe begegnen, beide Staaten verfügen über entsprechend große und vielfältige Arsenale. Anders bei Frankreich, dem einerseits die konventionellen Fähigkeitsspektren der USA fehlen und das andererseits über zu geringe Bestände an Nuklearwaffen verfügt, um Russland als Macht mit den größten nuklearen Waffenkapazitäten abzuschrecken. Dass Frankreich alleine die Anzahl seiner Nuklearwaffen entsprechend erhöhen kann, ist allein schon finanziell ausgeschlossen. Dass andere diese finanzieren, die politische Entscheidung aber beim französischen Präsidenten bleibt, ist wenig plausibel. Doch stellt sich das Problem erweiterter Abschreckung in Frankreich anders als in den USA. Denn es liegt – wie oben ausgeführt – im nationalen Interesse der USA, die Gegenküste Europa zu sichern, vor allem im Konflikt mit China, während Frankreich in einer eskalierenden Lage weit eher Interesse daran ausbilden könnte, die bilateralen Beziehungen mit Russland kooperativ zu gestalten. Das Ziel eines autonom souveränen Europas, das Präsident Macron zu Beginn seiner Präsidentschaft formulierte und seither verfolgte, würde aber an der politisch-militärischen Realität scheitern. Die immer wieder kolportierten Zweifel von Bundeskanzler Scholz an der Verlässlichkeit von Präsident Macron könnten hier einen Ansatz haben, aber das ist kein sicheres Wissen.

Insbesondere in Deutschland hat angesichts dieser Lage eine Fachdebatte über die nukleare Bewaffnung des Landes begonnen, die allerdings nicht in der breiten Öffentlichkeit geführt wird. In ihr stehen sich zwei Positionen gegenüber. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass die Größe und Bedeutung Deutschlands in der Europäischen Union es geradezu erfordert, dass ein wesentlicher Beitrag zur Abschreckung Russlands geleistet wird. Da Nuklearwaffen jedoch nationale Waffen sind und die erweiterte Abschreckung Zweifel an ihrem Einsatz nährt, seien deutsche Nuklearwaffen unerlässlich. Unterstützung erhielt diese Position (wohl eher ungewollt), als Bundeskanzler Scholz seine Ablehnung, der Ukraine den deutschen Marschflugkörper Taurus zu liefern, nachdem Großbritannien den Marschflugkörper Storm Shadow und Frankreich das Pendant Scalp geliefert hatten, damit begründete, Deutschland könne eben nicht das tun, was Frankreich und Großbritannien leisten könnten. Diese Aussage könne sich nur, so die öffentliche Wahrnehmung der interpretationsbedürftigen Kanzlerworte, auf den Unterschied zwischen zwei Nuklearmächten und einer Nicht-Nuklearmacht beziehen. Der sicherheitspolitische Handlungsspielraum Deutschlands, so die Schlussfolgerung, sei auch auf konventionellem Gebiet durch den Mangel an nuklearer Bewaffnung eingeschränkt. Demgegenüber wird argumentiert, dass Deutschland rechtlich durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag an den Status als Nicht-Nuklearmacht gebunden sei, dass ein Ausbrechen auch den Non-Proliferationsvertrag schwer beschädigen würde, dass sich Deutschland insgesamt von Nuklearenergie verabschiedet hat und der Aufbau einer solchen Bewaffnung den finanziellen Rahmen der Verteidigungsausgaben sprengen würde. Wie erkennbar argumentieren beide Seiten auf unterschiedlichen Ebenen, weshalb es keinen produktiven Austausch gibt. Eine politische Mehrheit für deutsche Nuklearwaffen scheint in absehbarer Zukunft völlig unwahrscheinlich, keine politische Partei hat dieses Thema auch nur angefasst.

So bleibt die Möglichkeit, Nuklearwaffen für die EU aufzustellen. Das ist so allgemein formuliert, weil sich dahinter die beiden Varianten auftun, die politische Kontrolle entweder einer Gruppe von Staaten zu überlassen oder an der Spitze der EU anzusiedeln. Der Vorschlag, dass die Kommandogewalt über die nuklearen Arsenale der EU zwischen den Hauptstädten der größeren EU-Staaten rotieren könnte, wurde zwar wiederholt geäußert, aber von niemandem ernst genommen. Dass die Präsidentin der EU-Kommission oder die halbjährliche Präsidentschaft des Europäischen Rats mit der Aufgabe, die Abschreckung glaubhaft zu kommunizieren betraut werden, ist unwahrscheinlich. Dem steht, wie oben dargelegt, im Weg, dass sich die EU eben nicht zu einem Bundesstaat entwickelt. Deshalb ist eine genuine EU-Nuklearmacht als Abschreckung gegenüber Russland derzeit völlig unplausibel. Sie kommt im Handlungsspielraum der EU-Staaten und damit Deutschlands nicht vor. Damit ist das Dilemma der erweiterten Abschreckung durch die USA aufgeworfen.

Graph: Kaum einer hat die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft so befördert, wie Donald Trump, hier bei einem Auftritt vor Anhängern im November 2022

5.2 Erweiterte nukleare Abschreckung durch die USA

Die USA sind in der Lage und waren auch in den zurückliegenden Jahrzehnten gewillt, die nukleare Abschreckungsleistung für die europäischen NATO-Staaten zu übernehmen. In dieser Zeit ist diese immer wieder bezweifelt oder aus Europa sogar abgelehnt worden. Das hat an der Grundverfassung der Nuklearabschreckung in der NATO jedoch nicht viel geändert. Schon nach seiner Wahl zum US-Präsidenten 2016 hatte Donald Trump diese jedoch in Zweifel gezogen. Die NATO sei „obsolet", erklärte er, bevor er sich rühmte, dass erst er die NATO wirklich gestärkt habe. Das wiederholte sich im Februar 2024, als er auf einer Wahlkampfveranstaltung in South Carolina nicht nur erklärte, säumige NATO-Staaten, also diejenigen, die weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben aufwenden, nicht zu beschützen, sondern Russland geradezu einlud, sich dieser Staaten zu bemächtigen. War das nur Wahlkampf? Das ist mit Blick auf die erratischen Entscheidungen Trumps schwer zu sagen, denn wer hätte vermutet, dass ein US-Präsident, der China einhegen will, die Transpazifische Partnerschaft (TTP), die zusammen mit pazifischen Staaten gegen China gerichtet war, aufkündigt? Trump hatte es getan. Würde er dies auch mit der NATO tun? Der US-Senat sah die Gefahr jedenfalls als so real an, dass in den Verteidigungshaushalt 2023 ein Gesetz aufgenommen wurde, das dem US-Präsidenten den Austritt aus der NATO ohne Beteiligung des Senats untersagt. Allerdings weiß niemand, was dieses Gesetz im Fall der Fälle wert ist, denn bei der Ratifizierung des Washingtoner Vertrages hatte der Senat damals die Austrittsmöglichkeit mitbeschlossen und damit dem Präsidenten die Option eröffnet. Rechtlich ist die Lage unklar. Politisch ist sie klar: Der US-Präsident kann mit wenigen Worten die Abschreckungsleistung der USA zurücknehmen, dazu muss er noch nicht einmal den Austritt aus der NATO erklären, wie dies Trumps früherer Nationaler Sicherheitsberater John Bolton jedoch sicher erwartet.

In den Papieren zur Vorbereitung einer zweiten Präsidentschaft von Donald Trump sind jedoch andere Hinweise zu finden. Demnach geht es darum, die europäischen NATO-Staaten zu enormen konventionellen Aufrüstungen anzuhalten, um einerseits konventionelle Kräfte der USA anders verplanen zu können und andererseits die Sicherheitsleistung der USA für Europa auf die nukleare Dimension zu konzentrieren. Dahinter steht die Annahme, dass der Konflikt mit China für die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik bestimmend werden wird und die Abschreckung Russlands insbesondere nuklear geleistet werden sollte.

Zu den Verbündeten der USA ist dort vermerkt: „U.S. allies must take far greater responsibility for their conventional defense. U.S. allies must play their part not only in dealing with China, but also in dealing with threats from Russia, Iran and North Korea." Das klingt nicht nach dem Austritt aus der NATO, sondern danach, die Verbündeten in Europa und dem Pazifik für die erwartete Auseinandersetzung mit China (und Russland, Iran und Nord-Korea) zu gewinnen. Dies wurde auch schon früher von einem Verfasser nahegelegt, dem ein gewisser Einfluss auf die Gestaltung der außenpolitischen Konzeption einer republikanischen Administration nachgesagt wird. Wie sich die NATO-Politik in einer möglichen zweiten Amtszeit von Präsident Trump letztlich gestalten wird, ist nicht sicher vorauszusehen. Beachtet er die außen- und sicherheitspolitische Interessenlage der USA, wird er die NATO stärken. Dass er gegen diese Interessenlage zu handeln fähig ist, hat er jedoch schon bewiesen.

Hinzu kommt, dass die Polarisierung der politischen Parteien in den USA, die das Regierungssystem immer wieder an den Rand der Unregierbarkeit führt, für die kommenden Jahre weiter bestimmend sein wird. Das heißt, dass sich die europäischen NATO-Staaten selbst dann, wenn die Administration verlässlich ist, nicht unbedingt auf die erforderlichen Entscheidungen der Legislative verlassen können. Auch dies ist ein Impuls, die Sicherheitsleistungen der USA nicht für garantiert anzusehen, denn immer wieder können politische Auseinandersetzungen in den andauernden Wahlkämpfen zu Blockaden führen. Die Anlehnungsmacht USA ist für ihre europäischen Verbündeten aus Gründen der inneren Entwicklung und der sich hieraus ergebenden Restriktionen unberechenbarer geworden. Während die Turbulenzen in europäischen NATO-Staaten aufgrund ihrer geringen Fähigkeiten tolerierbar sind – anders als in der Europäischen Union, wo sie durch das institutionelle Instrument des Vetos im Europäischen Rat nachhaltigen Einfluss nehmen können –, sind Turbulenzen in den USA gravierend: Millimeterverschiebungen in der amerikanischen Debatte und Entscheidungsfindung haben deutlichen Einfluss auf die europäischen Staaten.

6 Der sicherheitspolitische Handlungsspielraum Deutschlands

Damit sind einige Bedingungen genannt, die den sicherheitspolitischen Handlungsspielraum begrenzen, innerhalb dessen Deutschland das umsetzen kann, was Bundeskanzler Scholz als „Zeitenwende" bezeichnet hat: Sicherheit in einem veränderten internationalen Umfeld herzustellen. Um einige Aspekte zur Ausmessung dieses Raums nochmals kurz anzuführen, müssen folgende Bedingungen beachtet werden:

  • Deutschland ist sowohl von der Ausstattung seiner Fähigkeiten als auch der politisch-strategischen Willensbildung nicht befähigt, autonome, sicherheitsgarantierende Maßnahmen zu ergreifen. Deutschland braucht eine Anlehnungsmacht, weil über drei Jahrzehnte versäumt wurde, autonome Handlungsfähigkeiten zu erarbeiten.
  • Die Europäische Union kann diese Anlehnungsmacht nicht sein, erstens weil Deutschland als größter Staat in der EU selbst für deren mangelnde Ausstattung mitzeichnet und zweitens, weil auf absehbare Zeit eine gemeinsame politische Willensbildung in den zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen äußerst unwahrscheinlich ist.
  • Die EU ist als Ordnungsmodell für Europa – Sicherheitsgemeinschaft nach innen, verteidigungsunfähig nach außen – durch Russland herausgefordert. Russland will die EU durch die Schaffung unterschiedlicher Sicherheitszonen in Europa und die Verdrängung der USA aus Europa als Ordnungskraft für den europäischen Kontinent ablösen. Russland hat sich durch die Entwicklung zum faschistischen Staat ideologisch und materiell auf diese Aufgabe konzentriert und diese Herausforderung wird für Jahrzehnte – sollte das Regime in Russland nicht überraschenderweise zusammenbrechen, wofür es keine Anhaltspunkte gibt – die Sicherheitsordnung in Europa bestimmen.
  • Die Europäische Union kann dieser Herausforderung alleine nicht standhalten, weil ihr der politische Wille, die politische Kohäsion und die erforderlichen materiellen Ressourcen fehlen. Die EU-Staaten hätten zwar die wirtschaftliche Kraft und demografische Größe, Russland zu widerstehen, nicht aber die politische Verfassung. Deswegen benötigt die EU zur Abwehr und Abschreckung Russlands wiederum eine Anlehnungsmacht. Die Mangellage Deutschlands reproduziert sich auf EU-Ebene.
  • Die deutsch-französische Initiative einer Allianz der multilateralen Mächte führte erwartungsgemäß zu nichts. Die internationale Ordnung bildet keine multipolare Struktur aus. Entsprechend fehlen Deutschland die Verbündeten, um eine eigenständige Position in der internationalen Politik begründen zu können. Die Mittelmächte mit Turbulenzpotenzial für die Zukunft stellen keine Staatengruppe dar, die ein eigenständiges Gewicht in den internationalen Beziehungen aufweisen wird.
  • Die sich ausbildende Bipolarität in der internationalen Ordnung wirft die Frage auf, wie die Beziehungen zu den beiden Weltmächten USA und China gestaltet werden können. Je konfrontativer die Beziehungen der beiden Weltmächte zueinander ausgestaltet sind, desto geringer ist der Handlungsspielraum der mit ihnen verbundenen Staaten. Die USA haben China als einzigen Staat identifiziert, der ihre dominante Stellung in der internationalen Ordnung herausfordern kann und will. China hat die Einnahme Taiwans als Ziel formuliert, um die eigene dominante, den USA dann überlegene Stellung zu dokumentieren. Die Konfrontation ist nicht unvermeidbar, aber auch nicht unwahrscheinlich.

Welchen Handlungsspielraum hat die deutsche Sicherheitspolitik jenseits der Aufrechterhaltung der transatlantischen Allianz, sofern diese seitens der USA aufgekündigt würde? Die kurze Antwort lautet: Sie hat keinen autonomen Handlungsspielraum und gar keinen Handlungsspielraum, wenn die demokratische Ordnung im Inneren bewahrt werden soll.

7 Szenarien jenseits der NATO

Wenn John Bolton, der Trump von April 2018 bis September 2019 als Nationaler Sicherheitsberater zur Seite stand, dessen Intentionen für die zweite Amtszeit richtig interpretiert, dann wird Trump alles daransetzen, dass die USA die NATO verlassen. Ob der Senat ihn davon abhalten kann, wenn er das in seiner neuen Zusammensetzung möchte, ist rechtlich unklar. Aber selbst, wenn Trump den Austritt nicht vollziehen könnte, wäre er in der Lage, die zentrale Leistung der USA für die europäischen Verbündeten zurückzuziehen und zu erklären, dass die USA im Falle eines Angriffs auf europäische NATO-Staaten keinen militärischen Beistand leisten würden. Schon jetzt rechnen viele Beobachter damit, dass Putin nach der Wahl Trumps die Kohäsion der NATO und die Unterstützungsbereitschaft der USA austesten werde. Die baltischen Staaten sehen sich selbst als erstes Testgelände einer solchen Vorgehensweise. Deutschland ist mit eigenen Truppen in Litauen vertreten, um bei einem Angriff reagieren zu können.

Ohne die USA ist die NATO kopflos und handlungsunfähig, ihr fehlt die Führung und die Ausstattung zum Kampf. Nicht nur, weil die Einsatzpläne allesamt die militärischen Leistungen der USA beinhalten – andere gibt es nicht –, sondern auch, weil die USA über den Großteil der zur Umsetzung dieser Pläne notwendigen Fähigkeiten verfügen. Die NATO-Hauptquartiere wären ohne amerikanisches Personal nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die europäischen NATO-Staaten wären zu einer gemeinsamen Verteidigung – Führung, Logistik, Aufklärung, Kampfkraft – ohne die USA nicht fähig. Vor allem wäre in einer solchen Lage damit zu rechnen, dass einige Staaten umgehend bessere Beziehungen zu Russland anstreben würden. Man sollte davon ausgehen, dass die Kohäsion der NATO ohne die USA nicht lange anhalten wird. Damit aber wäre die von Russland angestrebte politische Dynamik ausgelöst, die zum Zerfall von NATO und EU führen würde. Die europäischen Staaten würden versuchen, ihre Sicherheit in bilateralen Beziehungen zu gewährleisten, manche zu den USA, manche zu Russland.

Ein solches Szenario wurde in den frühen 1990er-Jahren in den USA diskutiert, als dort über die Auflösung der für die USA finanziell teuren NATO nachgedacht wurde. Das zentrale Argument für eine solche Perspektive war, dass die USA in den bilateralen Beziehungen zu den einzelnen europäischen Staaten größere Vorteile erlangen könnten. Politisch wurde anders entschieden und die NATO durch Phasen ihrer Re-Orientierungen hindurch aufrechterhalten. Die EU-Staaten nutzen diese Zeitspanne jedoch nicht, parallele Strukturen in der EU aufzubauen, teilweise auch, weil die USA dies unterbunden haben.

Jenseits der NATO und angesichts der Unfähigkeit, eine strategische Autonomie für die EU auszubilden, müsste jede Form der Institutionalisierung von neuen Sicherheitsstrukturen in Europa Russland in seiner jetzigen Verfassung einbeziehen. Das würde bedeuten, dass auch chinesische Interessen berücksichtigt werden. Während China an intensivem Handelsaustausch und einer allgemeinen Unterstützung durch die europäischen Staaten interessiert ist, würde Russland eine größere Folgebereitschaft einfordern und mangels Abwehrkraft auch erreichen können. Denn angesichts der geringen Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft in Deutschland könnte Russland Folgebereitschaft durch hybride Angriffe, Desinformation und Cyberattacken sowie nukleare Drohungen erreichen. Die Alternative zur Aufrechterhaltung von Sicherheit in der NATO wäre die Folgebereitschaft gegenüber Russland, mit allen innenpolitischen Konsequenzen.

In Deutschland gibt es eine Mehrheit von zwischen 70 und 80 Prozent für die Beibehaltung der Westbindung, also die innere demokratische Ordnung, die europäische Integration und die engen Beziehungen zu den USA. Auch wenn Trump die NATO prekär stellen könnte, so liegt sie im mittelfristigen Interesse der USA, um zu verhindern, dass mit China ein Staat die Dominanz über den eurasischen Raum erlangen kann. Insofern kann die deutsche Sicherheitspolitik mittelfristig mit diesem Interesse kalkulieren, auch wenn es zu kurzfristigen Turbulenzen kommen kann. Was folgt daraus für die Konzipierung und Implementierung der deutschen Sicherheitspolitik? Die wichtigste Bedingung wäre ein Mentalitätswechsel, der allerdings neues Personal voraussetzt. Denn dass die mentale Zeitenwende in Deutschland nicht vollzogen ist, liegt auch an mangelnder politischer Führung. Die Diskussion über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO in Deutschland verlief provinziell. Die eigentliche Frage hätte stets lauten müssen: Was soll die Bundeswehr können, um die äußere Sicherheit Deutschlands bewahren und die Bündnisaufgaben erfüllen zu können? Schnell wäre sichtbar geworden, dass das Budget von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht ausreicht. Doch diese Frage wurde nie gestellt, weil keine ernsthafte Sicherheitspolitik konzipiert, geplant und umgesetzt werden sollte. Die Aufgabe besteht nun darin, diese Frage ernsthaft zu stellen, sie dann im Bündnis zu beantworten und anschließend, so rasch wie möglich, die notwendigen Fähigkeiten zu erlangen. Ausstattung, Ausbildung und Kampfkraft sind die Maßstäbe, an denen sich Deutschland militärisch messen muss. Dass nun in einer Arbeitsgruppe über die Beschaffung von Drohnen beraten wird, zeigt den derzeitigen Status an Professionalität auf. Um das zu ändern wird die Ausbildung einer politischen Kultur, die Zweck- und Strategiefragen ernsthaft diskutiert, notwendig sein.

Dies sind die Grundvoraussetzungen, um Führungsaufgaben in der EU zu übernehmen. Auch das muss Teil der mentalen Zeitenwende werden, wenn Deutschlands Sicherheit erarbeitet werden soll. Es geht nicht weiter darum, dass Deutschland wie in der Vergangenheit gegenüber den kleineren EU-Mitgliedstaaten Dominanz ausübt, wo es gelegen erscheint, sondern dass in Abstimmung mit anderen durch Führungsleistung Gefolgschaft erreicht werden kann. Denn die anderen EU-Staaten bestimmen durch ihre Folgebereitschaft die Führungsnationen. Dass Deutschland und Frankreich seit vielen Jahren keinen gemeinsamen europapolitischen Tritt mehr fassen können, ist für die EU ein schwerer politischer Nachteil. Wenn sich der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler öffentlich über sicherheitspolitische Grundfragen diametral widersprechen, schwächt das die gesamte EU. Die intensiveren Beziehungen zu den USA könnten hier für Deutschland ein wichtiges Instrument sein, wenn sie denn tragfähig ausgebaut würden. Denn derjenige Staat aus der EU, der die intensivsten Beziehungen in die USA vorweisen kann, wäre ein wichtiger Ansprechpartner insbesondere für die ost- und nordeuropäischen Staaten. Dass aus Deutschland das Angebot einer „Partnerschaft in der Führung" bislang niemals aufgegriffen und selbstständig auskonzipiert wurde, erweist sich im Rückblick als das schwerste Versäumnis deutscher Sicherheitspolitik der vergangenen dreißig Jahre. Aus dieser Konstellation könnte Dynamik für die Zukunft entwickelt werden, in der Deutschland zwar nicht die Initiative übernehmen, jedoch Angebote und Anreize für eine vertiefte Kooperation vorlegen kann.

Die Initiative zum Management der transatlantischen Beziehungen wird in den folgenden Jahren, da sich die USA stärker dem Konflikt mit China zuwenden werden, von den europäischen NATO-Staaten ausgehen müssen. Diese sich schon unter Präsident Barack Obama abzeichnende Hinwendung zum Pazifik wird sich unter jeder amerikanischen Regierung, ob demokratisch oder republikanisch geführt, ausbilden, weil die sich verstärkende Bipolarität dies erfordern wird. Dieser Prozess wird stärker als andere den Handlungsspielraum für die deutsche Sicherheitspolitik bestimmen. Die Frage, die sich in Deutschland selbst parallel stellt, lautet, ob das demokratische politische System bewahrt werden soll, das derzeit von einer Drei-Viertel-Mehrheit getragen wird, oder ob sich die Unterstützung für eine andere politische Ordnung verstärkt. Auch dieser Prozess ist in der Zeitenwende enthalten. Es ist die Dialektik der Zeitenwende für die Gewährleistung der Sicherheit des demokratischen Deutschlands, dass es Sicherheit jenseits der NATO nur in der NATO gibt.

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Vgl.[25] 2014; diese Idee prägte selbst die späteren Ausarbeitungen, die dann „realistischer" sein wollten, statt vieler Maihold/Mair/Müller/Vorrath/Wagner 2021. Die vom Fachverband Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft getragene „Zeitschrift für Internationale Beziehungen" fokussierte sich von Beginn an auf diese sozial-konstruktivistische Theorierichtung, als Referenztext galt[50] 1999. Das „neue Denken" (Verrechtlichung, Zivilisierung, Globales Regieren) wurde dann zusammengefasst in Hellmann/Wolf/Zürn 2003. Kohnstamm/Hager 1973. Vgl.[30] 2003, siehe auch[46] 2004. Kritisch zuvor schon[48] 2020. Vgl. Christoph Straub: Heeresinspekteur kritisiert deutsche Verteidigungspolitik: „Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da", Tagesspiegel, 24.2.2022. Vgl. Karina Mössbauer: Bundeswehr steht noch blanker da als vor dem Krieg,BILD Online, 25.1.2023. Giegerich/Terhalle 2021a und 2021b. [51] 2014, 5. Ein Dokument dieser Haltung ist das Gestaltungsmächtekonzept, das einzige Dokument, auf das sich die deutschen Ministerien vor der Veröffentlichung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie einigen konnten. Die Bundesregierung:Globalisierung gestalten – Partnerschaften aufbauen – Verantwortung teilen. Konzept der Bundesregierung. Berlin 2012. Darauf wird später noch eingegangen: Die multipolare Ordnung ist eine Selbsttäuschung als Folge der skizzierten Denkweisen. Auswärtiges Amt: Stärkung und Fortentwicklung des Völkerrechts, unter:https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regelbasierte-internationale-ordnung/voelkerrecht-internationales-recht/voelkerrecht/2161372. Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 6. März 2014 vor dem Deutschen Bundestag am 13. März 2014 in Berlin,Bulletin der Bundesregierung Nr. 25-1 vom 13. März 2014. Müller 2003, 184. Grundlegend zum Konzept Polarität vgl.[49] 1979. [40] 1939. Ein solches Konzept ist wissenschaftlich nicht ausgearbeitet, es nimmt Anleihen an Ausarbeitungen[38] 1993. Auswärtiges Amt: #MultilateralismMatters: Ministertreffen der Allianz für Multilateralismus, 23.9.2021. In der PR-Begleitung ging dies allerdings durcheinander, beispielsweise bei[39] 2020. Vgl.[17] 2019, 141–177. Mit anderer Herangehensweise Mangasarian/Techau 2017. [19] 1994, 904. Thomas Jäger: Wandel durch strategisches Interdependenzmanagement, 49security, Impulse für die Nationale Sicherheitsstrategie, 2022, unter:https://fourninesecurity.de/2022/09/01/wandel-durch-strategische-interdependenzsteuerung. Vgl.[4] 2016; zur Realistischen Debatte vgl. Kapstein/Mastanduno 1999. [21] 2015. [52] 2009. Siehe auch den Beitrag von Heiko Herold in diesem Heft. Vgl. Guriev/Treismann 2022. Die Diskussion kann hier nicht ausführlich geführt werden. Die Literatur zum Faschismus ist kaum zu übersehen. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf Griffith 1995, Griffith 1998,[35] 2006,[45] 2018. [7] 2015;[1] 2020. Gideon Rachman: Putin, Trump and the meaning of a mafia state,Financial Times, 28.8.2023. Statt vieler als Fallstudie die Übersicht von[36] 2007. Vgl.[31] 2016. Hellsichtig mit dem Blick in die Zukunft[44] 2008 und[29] 2009. Putin vergleicht sich mit Peter dem Großen,Zeit online, 10.6.2022. Sandra Lumetsberger: „Ausspucken wie Mücken". Aufruf zu Säuberungen? Putin schmäht pro-westliche Russen als „Abschaum",Der Tagesspiegel, 19.3.2022. [8] 2000. Vgl.[15] 2022. Ausgezeichnet analysiert von[37] 2022. Vgl.[26] 2022. Ganz im Sinne Chinas dargestellt von Naisbitt/Naisbitt/Brahm 2019. In Deutschland zuletzt wieder von Schöllgen/Schröder 2021. Diese Lage brachte die EU-Kommission mit fünf Szenarien zu Papier:Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel 2017. Statt vieler: Medwedew droht erneut mit Atomkrieg,Welt online, 18.2.2024. Um die Bedrohung der baltischen Staaten in die Öffentlichkeit zu tragen hatte der frühere D-SACEUR Richard Shirreff einen Roman geschrieben, weil Policy Paper doch nicht gelesen würden, siehe[43] 2016. Marco Seliger: Neue Diskussionen um Atomwaffen: Trumps Äußerungen haben die Urangst der Europäer geweckt, von Amerika im Stich gelassen zu werden,Neue Zürcher Zeitung, 15.2.2024. Michaela Wiegel: Le Pen will Atommacht nicht teilen, FAZ online, 4.2.2024. Es ist in der wissenschaftlichen Diskussion strittig, ob eine Basis-Abschreckung, über die Frankreich verfügt, ausreicht, die entsprechende Wirkung erzielen zu können, oder ob die mehrfache Vernichtungsfähigkeit durch ein großes Arsenal (Russland hat ca. 6.000 nukleare Sprengköpfe, Frankreich 300) vielfältigere Handlungsoptionen auslöst. Rede von Staatspräsident Macron an der Sorbonne. Initiative für Europa. Paris, 26.September 2017, hrsg. Französische Botschaft, Berlin. [27] 2023. Miller 2023, 94. [5] 2021. [22] 2020. [3] 2020. Daran hat Russland seit Jahren gearbeitet, vgl. Bingener/Wehner 2023. Zuletzt war es die Berufung von Christine Lambrecht zur Bundesministerin der Verteidigung vom Dezember 2021 bis Januar 2023, die seriöse Verteidigungspolitik verhindern sollte. Detailliert dargestellt bei[28] 2012. Mit weit ausgreifendem Horizont[6] 2009.

By Thomas Jäger

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Titel:
Handlungsspielräume deutscher Sicherheitspolitik nach Russlands Angriff auf die Ukraine 2022.
Autor/in / Beteiligte Person: Jäger, Thomas
Link:
Zeitschrift: SIRIUS - Zeitschrift fur Strategische Analysen, Jg. 8 (2024-06-01), Heft 2, S. 119-142
Veröffentlichung: 2024
Medientyp: academicJournal
ISSN: 2510-263X (print)
DOI: 10.1515/sirius-2024-2002
Schlagwort:
  • INTERNATIONAL organization
  • MILITARY policy
  • INTERNATIONAL relations
  • VIOLENCE
  • DEMOCRACY
  • Subjects: INTERNATIONAL organization MILITARY policy INTERNATIONAL relations VIOLENCE DEMOCRACY
  • bipolarity
  • European Union
  • German security policy
  • multipolarity
  • Bipolarität
  • Deutsche Sicherheitspolitik
  • Europäische Union
  • Multipolarität
  • Russia
  • Russland
  • USA
  • Zeitenwende Language of Keywords: English; German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Universität Köln, Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik Köln, Deutschland
  • Full Text Word Count: 15018

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